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Todesdämmerung

Todesdämmerung

Titel: Todesdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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verrückte alte Lady? Wer ist dann der Typ mit dem weißen Kombi?

8
    Grace Spivey saß auf einem harten Eichenstuhl, und ihre eisgrauen Augen funkelten in der Düsternis.
    Heute war ein roter Tag in der Geisterwelt, ein sehr roter Tag sogar, und sie war ganz in Rot gekleidet, um damit im Gleichklang zu sein, so wie sie sich gestern ganz grün gekleidet hatte, als die Geisterwelt eine grüne Phase durchlaufen hatte. Die meisten Leute waren sich nicht bewußt, daß die Geisterwelt rings um sie von Tag zu Tag die Farbe änderte; natürlich konnten die meisten Leute das übernatürliche Reich nicht so deutlich sehen, wie Grace das konnte, wenn sie sich wirklich Mühe gab; tatsächlich konnten die meisten von ihnen es sogar überhaupt nicht sehen, also konnten sie natürlich unmöglich begreifen, warum Grace sich so anzog. Aber für das Medium Grace war es wesentlich, in Harmonie mit der Farbe der Geisterwelt zu sein, weil sie dann leichter hellseherische Visionen aus der Vergangenheit und der Zukunft empfangen konnte. Diese Visionen wurden ihr von guten Geistern gesandt, und sie wurden ihr auf farbigen Energiestrahlen übermittelt, Strahlen, die heute in allen Schattierungen von Rot leuchteten.
    Wenn sie versucht hätte, dies den meisten Menschen zu erklären, hätten sie sie für verrückt gehalten. Vor ein paar Jahren hatte ihre eigene Tochter sie zur psychiatrischen Untersuchung in ein Krankenhaus einweisen lassen, aber Grace war aus der Falle geschlüpft, hatte sich von ihrer Tochter losgesagt und war seitdem viel vorsichtiger gewesen.
    Heute trug sie dunkelrote Schuhe, einen dunkelroten Rock und eine gestreifte Bluse in helleren Rottönen. All ihr Schmuck war rot: eine zweireihige Kette aus karminroten Perlen und dazu passende Armbänder; eine feuerrote Porzellanbrosche; zwei Rubinringe; ein Ring mit vier blitzenden Ovalen aus hochglanzpoliertem Karneol; vier weitere Ringe mit billigem roten Glas, purpurrotem Email und scharlachrotem Porzellan. Ob wertvoll, Halbedelsteine oder Straß — alle Steine in ihren Ringen funkelten im flackernden Kerzenlicht.
    Die zuckenden Flammen, die auf den Dochten blitzten, ließen seltsame Schatten über die Kellerwände huschen. In Wirklichkeit war der Raum groß, aber er wirkte klein, weil die Kerzen nur an ihrem Ende standen und drei Viertel des Raumes außerhalb ihres unregelmäßigen bernsteinfarbenen Lichtkreises lagen. Insgesamt waren da elf Kerzen, jede fett und weiß und jede in einem Kerzenhalter aus Messing mit einer Tropfschale darunter; jeder Messingkerzenhalter wurde fest von einem der Jünger von Grace gehalten, die jetzt alle begierig darauf warteten, daß sie zu sprechen begann. Von den elf waren sechs Männer und fünf Frauen. Einige waren jung, einige in mittleren Jahren, einige alt. Sie saßen auf dem Boden und bildeten einen Halbkreis um den Stuhl, auf dem Grace saß, und ihre Gesichter glänzten und wurden von dem flackernden, gespenstischen Leuchten seltsam verzerrt.
    Diese elf stellten nicht etwa ihre ganze Anhängerschaft dar. In dem Raum darüber waren mehr als fünfzig andere, die ungeduldig darauf warteten, das zu hören, was während dieser Sitzung geschehen würde. Mehr als tausend andere waren andernorts an hundert verschiedenen Stellen mit Arbeit befaßt, die Grace ihnen zugewiesen hatte.
    Aber diese elf, die ihr zu Füßen saßen, waren ihre vertrautesten, fähigsten Stellvertreter. Sie waren es, die sie am meisten schätzte.
    Sie kannte sogar ihre Namen und erinnerte sich an sie, obwohl es ihr heutzutage nicht leichtfiel, sich an Namen (oder sonst etwas) zu erinnern, nicht so leicht wie früher, ehe ihr die Gabe gegeben worden war. Die Gabe erfüllte sie, erfüllte ihren Verstand verdrängte so viele andere Dinge, die ihr einmal selbstverständlich gewesen waren — so wie die Fähigkeit, sich Namen und Gesichter zu merken. Und die Fähigkeit, dem Ablauf der Zeit zu folgen. Sie wußte nie mehr, wie spät es war; selbst wenn sie auf eine Uhr blickte, bedeutete ihr das häufig nichts. Sekunden, Minuten, Stunden und Tage schienen ihr jetzt wie lächerlich willkürliche Zeitmaße; gewöhnlichen Männern und Frauen mochten sie vielleicht nützlich sein, aber sie war darüber hinaus. Manchmal, wenn sie dachte, nur ein Tag sei verstrichen, stellte sie fest, daß eine ganze Woche fehlte. Das war beunruhigend, aber auch eigenartig berauschend, denn es machte ihr beständig bewußt, daß sie etwas Besonderes war, daß sie auserwählt war. Die Gabe hatte auch

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