Todesdämmerung
weißer. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus, wäre beinahe gestürzt, fing sich rechtzeitig und stand dann schwankend da, als bewege sich der Boden unter ihr. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Charlie.
»Sie werden mir helfen müssen«, sagte sie.
Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Er hatte erwartet, einer starken Frau gegenüberzutreten, einer Frau mit einer vitalen, magnetischen Persönlichkeit, einem zupackenden Typ, der von Anfang an versuchen würde, sie zu dominie ren. Statt dessen hatte sie Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Sie stand jetzt halb geduckt da, wie von Schmerzen gekrümmt, und sie wirkte immer noch steif und hatte die Hände immer noch zu Fäusten geballt.
Charlie und Henry gingen zu ihr.
»Helfen Sie mir zu diesem Stuhl, ehe ich falle«, sagte sie mit schwächlicher Stimme. »Es sind meine Füße.«
Charlie blickte auf ihre Füße hinab und stellte erschreckt fest, daß dort Blut zu sehen war. Er ergriff ihren linken Arm und Henry ihren rechten, und dann trugen sie sie halb zu dem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Als sie sich setzte, erkannte Charlie, daß sie an beiden Füßen, am Rist, blutende Wunden hatte, Löcher, als hätte man sie gestochen, aber nicht mit einem Messer, sondern mit einer ganz schmalen, spitzen Klinge, vielleicht einem Eispickel.
»Soll ich einen Arzt kommen lassen?« fragte er und war verblüfft darüber, wie besorgt er um sie war.
»Nein«, sagte sie. »Keinen Arzt. Bitte setzen Sie sich.«
»Aber...«
»Das wird schon wieder gut. Gott wacht über mich, wis sen Sie. Gott ist gut zu mir. Setzen Sie sich. Bitte.«
Verwirrt gingen sie zu den beiden Stühlen auf der anderen Seite des Tisches, aber ehe sie Platz nehmen konnten,
öffnete die alte Frau ihre Fäuste und hielt ihnen die Handflächen hin. »Sehen Sie«, sagte sie im Flüsterton, aber herrisch. »Sehen Sie sich das an! Seht!«
Der schauerliche Anblick ließ Charlie erstarren. In jeder Handfläche der Frau war ebenfalls ein blutendes Loch, wie in ihren Füßen. Während er die Wunden anstarrte, fing das Blut an, noch schneller aus ihnen herauszuquellen. Unbegreiflicherweise lächelte sie.
Charlie sah Henry an und sah dieselbe Frage in den Augen seines Freundes, die jetzt ohne Zweifel in den seinen zu lesen stand: Was, zum Teufel, geht hier vor?
»Es ist für Sie«, sagte die alte Frau aufgeregt. Sie beugte sich zu ihnen vor, streckte die Arme über den Tisch, hielt ih nen die Hände hin, drängte sie hinzusehen.
»Für uns?« sagte Henry verdutzt.
»Was meinen Sie damit?« fragte Charlie.
»Ein Zeichen«, sagte sie.
»Zeichen?«
»Ein heiliges Zeichen.«
Charlie starrte ihre Hände an.
»Stigmata«, sagte sie.
Jesus. Die Frau gehörte in eine Anstalt.
Eisige Kälte arbeitete sich an Charlies Wirbelsäule empor und ringelte sich um seinen Nacken, peitschte mit dem eisigen Schweif.
»Die Wunden Christi«, sagte sie.
Worauf haben wir uns da eingelassen? fragte sich Charlie. »Ich rufe jetzt besser einen Arzt«, sagte Henry.
»Nein«, sagte sie leise, aber keinen Widerspruch duldend. »Diese Wunden tun weh, ja, doch es ist ein süßer Schmerz, ein guter Schmerz, ein läuternder Schmerz, und sie werden sich auch nicht infizieren; sie werden von selbst gut heilen. Verstehen Sie nicht? Das sind die Wunden, die Christus erdulden mußte, die Löcher der Nägel, mit denen man Ihn ans Kreuz geschlagen hat.«
Sie ist wahnsinnig, dachte Charlie, und sah unruhig zur Tür, fragte sich, wo die Frau mit dem geröteten Gesicht sein mochte. Holte sie weitere Verrückte? Organisierte sie einen Killertrupp? Ein Menschenopfer? Und das nannten die Christentum?
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Grace Spivey, und ihre Stimme wurde dabei lauter, kräftiger. »Sie denken, ich sehe nicht wie ein Prophet aus. Sie denken, Gott würde nicht durch eine alte, verrückt aussehende Frau wirken, wie ich es bin. Aber genauso wirkt er. Christus ist mit den Ausgestoßenen gegangen, hat sich mit den Leprakranken angefreundet, den Prostituierten, den Dieben, den Verkrüppelten und hat sie ausgesandt, um Sein Wort zu verbreiten.
Wissen Sie, warum? Wissen Sie es?«
Sie sprach jetzt so laut, daß ihre Stimme von den Wänden widerhallte, und Charlie sah sich unwillkürlich an einen Fernsehprediger erinnert, der in hypnotischen Rhythmen sprach und mit der Ausstrahlung des ausgebildeten Schauspielers.
»Wissen Sie, weshalb Gott die unwahrscheinlichsten Bö ten auswählt?« fragte sie. »Das tut Er, weil Er Sie auf
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