Todesdrang: Thriller (German Edition)
nicht mehr konnte und nur noch ein leises Schluchzen von sich gab.
Über eine Stunde lang saß Dirk so da, während Cookie ihm den Handrücken leckte, als wollte er ihn trösten, und sah sich außerstande, jemals wieder aufzustehen. Es war, als wäre sämtliche Kraft aus ihm gewichen. Er fühlte sich so verloren und einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Zum ersten Mal spielte er mit dem Gedanken, sich geschlagen zu geben, keinen Widerstand mehr zu leisten. Aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer ihm so übel mitgespielt wurde, er sah keine Möglichkeit mehr, dem länger entgegenzuwirken. Aus dem selbstbewussten Banker, der sich für unantastbar hielt, war ein gebrochener Mann geworden.
Mühsam rappelte er sich auf. Er durfte sich nicht aufgeben. Seine Frau brauchte ihn jetzt mehr denn je. Anke würde wieder aus dem Koma erwachen. An diesen Gedanken klammerte er sich, denn er war seine letzte Hoffnung.
An der Spüle wusch er sich die Tränen aus dem Gesicht. Das kalte Wasser half ihm, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und sich der Aufgaben bewusst zu werden, die nun vor ihm lagen. Aufgaben, die ihm alles abverlangten.
Seinen Chef hatte er bereits vom Krankenhaus aus informiert. Er hatte ihm, ohne zu zögern, freigegeben. Nun musste er noch Ankes Eltern in Köln verständigen und ihnen erklären, dass ihre einzige Tochter im Koma lag. Er musste seinen eigenen Eltern klarmachen, dass ihr einziger Enkelsohn nicht mehr existierte. Und er musste Vorbereitungen für Kevins Beerdigung treffen. Allein der Gedanke daran, zum hiesigen Bestattungsunternehmer fahren zu müssen, um einen Sarg für seinen toten Sohn auszusuchen, ließ seinen Magen verkrampfen. Ihm war klar, dass er das alleine nicht durchstehen würde. Er brauchte Hilfe, musste sich jemandem anvertrauen.
Er schleppte sich ins Wohnzimmer und legte seinen Wollmantel auf der Couch ab. Schwermütig betrachtete er die kleine Kommode, auf der das Telefon stand. Dann fiel ihm das fehlende Mobilteil auf. Es lag auf dem Boden. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn, und seine Hand zitterte, als er sich bückte und nach dem Hörer griff. Anke musste vor dem Unfall noch telefoniert haben.
Unfall?
Seine Gedanken wurden klarer und formierten sich zu Fragen, die er durch die schrecklichen Ereignisse bislang verdrängt hatte.
Wohin waren die beiden überhaupt unterwegs gewesen?
Anke war mit Kevin zum Arzt gefahren. Anschließend wollte sie ihn in die Kindertagesstätte bringen. Weshalb war Kevin dann in ihrem Auto? Hatte sie ihn gar nicht zum Kindergarten gebracht? Wollte sie ihn mitsamt ihrem Sohn womöglich verlassen?
Dirk raufte sich die Haare. Er sah auf das Display und suchte die gespeicherte Nummer der Kindertagesstätte. Die Frau, die sich kurz darauf meldete und sich ihm als Barbara Peters vorstellte, erklärte ihm, Anke sei vormittags völlig aufgelöst zu ihnen gekommen und habe Kevin mitgenommen. Einen Grund dafür habe sie nicht genannt. Aber sie sei nach Aussage von Kevins Betreuerin sehr panisch gewesen. Auf ihre Frage, ob alles in Ordnung sei, brach Dirk erneut in Schluchzen aus. Dann schilderte er ihr, was passiert war, worauf sie ihm ihr Beileid und ihr Mitgefühl ausdrückte.
»Kevin war immer so ein aufgeweckter Junge«, sagte sie. »Ich kann das gar nicht fassen.«
Allein die Vergangenheitsform in Verbindung mit Kevins Namen schnürte Dirk die Kehle zu. Er bedankte sich bei Frau Peters und beendete das Gespräch mit dem Versprechen, sich in den nächsten Tagen bei ihr zu melden, um etwaige Formalitäten zu erledigen. Anschließend atmete er ein paarmal tief durch.
Panisch , hallte es ihm durch den Kopf wie ein Echo. Aber Panik wovor?
Dann fiel sein Blick auf den Notizblock. Sofort erkannte er Ankes Handschrift, auch wenn sie die übliche Eleganz vermissen ließ. Sie musste diese Notiz in aller Eile verfasst haben.
Er legte den Hörer beiseite und nahm die Notiz genauer in Augenschein. Anke hatte das Datum des gestrigen Tages vermerkt und eine Uhrzeit: 10:21 Uhr . Daneben stand nur ein einziges Wort: Er .
Dirk spürte sein Blut in den Adern pulsieren, während sich vor seinem geistigen Auge die Szenen formierten, die sich am Vortag hier abgespielt haben mussten. Er sah Anke, wie sie ans Telefon ging, sah ihren entsetzten Gesichtsausdruck, als sie erkannte, wer am anderen Ende der Leitung mit ihr sprach. Er sah das Telefon auf den Boden fallen und Anke aus dem Haus rennen, direkt zum Auto, um zum Kindergarten zu fahren. Sie musste Angst
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