Todesdrang: Thriller (German Edition)
unersättlich.
Nachdem er ein letztes Mal die Ausrichtung der Kamera überprüft und sich mit deren Bildausschnitt zufriedengegeben hatte, legten sich seine behandschuhten Hände sanft auf den wuchtigen Gegenstand, der vor ihm auf dem Tisch lag. Dann atmete er tief ein, spürte das erregte Kribbeln in seinem Magen. Es war so weit. Der Drang forderte seinen Tribut. Und er war gewillt, ihm diesen uneingeschränkt zu gewähren.
Er klappte das Schutzvisier herunter und drückte den Aufnahmeknopf der Videokamera.
Das Wimmern im Hintergrund wurde lauter.
Gegen Mittag verließ Dirk das Krankenhaus. Nach seinem Zusammenbruch hatten die Ärzte ihn über Nacht stationär aufgenommen und mit Medikamenten ruhiggestellt. Als er am Morgen erwacht war, hatte der Schock ihn jedoch sogleich wieder eingeholt und in einen Zustand völliger Hilflosigkeit versetzt. Kevin war tot. Und auch wenn Anke – was er von ganzem Herzen hoffte – ihre schweren Verletzungen unbeschadet überstehen würde, wäre sie aufgrund dieses Verlusts nicht mehr der unbekümmerte und hoffnungsvolle Mensch, der sie einmal gewesen war. Ihr Leben war innerhalb von Sekunden zerstört worden, und es gab keinen Weg zurück.
Die Ärzte im Krankenhaus hatten ihm nahegelegt, sich psychologischen oder geistlichen Beistand zu suchen, doch Dirk lehnte diese Möglichkeiten ab. Er konnte sich in seinem momentanen Zustand nicht vorstellen, dass irgendjemand seinen Schmerz lindern könnte. Doch er empfand nicht nur Trauer, sondern auch Hass. Er suchte nach einem Schuldigen für das, was ihm und seiner Familie widerfahren war, während er an Ankes Bett in der Intensivstation saß und dem gleichmäßigen Rhythmus der Beatmungsmaschine lauschte, die seine Frau am Leben hielt. Ein Anblick, der ihm das Herz zerriss und den er nicht länger ertragen konnte. Plötzlich wollte er nur noch weg, raus aus dem Krankenhaus, das ihm die Ausweglosigkeit seiner Lage mit jeder Sekunde verdeutlichte. Er sehnte sich nach einem Ort des Rückzugs, um sich dieser Situation, der er nicht gewachsen war und auf die er in keinster Weise Einfluss nehmen konnte, zu entziehen. Sein Zuhause schien ihm der einzige Ort zu sein, der diese Anforderungen erfüllte.
Doch als er dort ankam und vor der Garage hielt, erschien ihm dieses Zuhause plötzlich fremdartig und abstoßend. Diese Mauern würden nie wieder jene Geborgenheit und Wärme ausstrahlen, nach denen er sich nach einem harten Arbeitstag sehnte. Dieses Haus war nur noch eine Hülle ohne Inhalt, ein steinernes Grab für die Erinnerungen an ein erfüllteres Leben.
Ihm fiel ein, dass die Fernbedienung für das Garagentor noch immer in seinem Audi liegen musste. Er hatte vergessen, in der Werkstatt danach zu fragen. Doch nun war ihm das egal, so egal wie alles andere auch. Er schaltete den Motor ab und stieg aus, ohne die Türen des Ersatzwagens zu verriegeln. Schwerfällig schritt er über den Hof auf den Eingang zu. Alle Lebendigkeit war aus seinem Körper gewichen, der ebenso seelenlos schien wie das Gebäude, auf das er sich zubewegte.
Als er die Tür öffnete, wäre er beinahe über das längliche Paket gestolpert, das vor dem Eingang auf dem Boden stand. Vermutlich hatte der Postbote es am Morgen dort stehen gelassen, weil er niemanden angetroffen hatte, der es hätte in Empfang nehmen können. Automatisch griff Dirk nach dem Paket und betrat das Haus.
Cookie, dessen Kläffen er schon von draußen wahrgenommen hatte, rannte ihm entgegen und sprang freudig an ihm hoch. Doch Dirk beachtete ihn nicht, ging wie in Trance durch den kurzen Flur bis in die Küche, wo er das Paket auf der Arbeitsplatte abstellte. Erst nachdem Cookies Bellen nicht abebbte, realisierte er in seiner Trauer, dass der Hund seit über einem Tag allein in dem Haus gewesen war. Dirk löste sich aus seiner Starre, beugte sich zu dem kleinen Kerl hinab und streichelte ihn sanft. Doch selbst Cookie schien die Veränderung zu bemerken, spürte die Traurigkeit, die mit Dirks Rückkehr ins Haus gekommen war, und sein freudiges Japsen ging in ein leises Winseln über. Anschließend füllte Dirk etwas Trockenfutter in Cookies Fressnapf und entfernte das Häufchen Kot, das der Hund auf dem Küchenboden hinterlassen hatte. Eine Zeitlang stand Dirk da und schaute dem Hund beim Fressen zu, während seine Gedanken ins Leere schweiften.
Dann brach er in Tränen aus.
Seine Knie gaben nach, und er sank auf den Küchenboden. Die Trauer übermannte ihn, und er begann zu schreien, bis er
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