Todeseis
sagte er. »Sie starb bei der Geburt unserer Tochter – es war unser erstes Kind.«
»Oh, das tut mir leid«, sagte Gladys.
»Ist schon gut«, sagte er. »Es ist jetzt fast zwei Jahre her.«
»Und Ihre kleine Tochter?«
»Lebt bei meiner Schwester in London, ich besuche sie, sooft es geht.«
Sie fühlte sich in einer Art zu ihm hingezogen, die sie sowohl beglückte als auch erschreckte. Dass er ein anziehender Mann war, von erotischer Ausstrahlung, war für sie wichtig, denn die körperliche Liebe bedeutete ihr viel; aber vertraut hätte sie ihm allein wegen seiner körperlichen Anziehungskraft natürlich nicht. Der Tod seiner Frau und mehr noch das Schicksal seiner kleinen Tochter rührte sie tief und ließ sie ein geradezu überbordendes Vertrauen zu ihm fassen. Ganz gewiss, dachte sie, gehörte er nicht zu ihren Gegnern. Sie blickte auf die Uhr an ihrem Handgelenk.
»Eigentlich wollte ich Ihnen vorschlagen, dass wir noch etwas trinken gehen!«, sagte sie. »Aber es ist spät, und ich merke, wie müde ich bin.«
»Auch für mich war es ein langer Tag«, sagte Roger Carran und blickte seinerseits auf die Uhr. »Und er ist für mich noch nicht ganz zu Ende. Ich muss noch einen Rundgang machen. Meine Ermittlungen, die ich täglich an Bord durchführe, sind noch nicht abgeschlossen. Möchten Sie, dass ich Sie zu Ihrer Kabine begleite?«
Sie erwischte sich bei dem Gedanken, wie er wohl reagieren würde, wenn sie es unternahm, ihn schon in dieser Nacht zu verführen. Sie hatte sich nie gescheut, von ihren erotischen Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch zu machen, aber obwohl sie sich sehr nach geschlechtlicher Liebe sehnte und endlich einen geeigneten Partner gefunden hatte, zögerte sie.
»Gern! Sie sind doch jetzt mein Beschützer.«
Sie verließen die Bibliothek, und während sie nebeneinander durch die Kabinengänge schritten, schob sie ihren Arm in den seinen und hakte sich bei ihm unter. In seiner Nähe spürte sie seine machtvolle Energie, und sie tat alles, ihn mit ihrer eigenen zu elektrisieren.
»Schließen Sie die Kabine gut ab!«, sagte er zum Abschied. »Sehen wir uns morgen wieder?«
Es war besser, nichts zu überstürzen, sagte sie sich. So sehr sie nach Liebe sehnte, unbedingt und ohne Rücksicht auf mögliche Folgen, so war es doch wichtiger, dass sie in der Liebe erfolgreich war. Morgen war auch noch ein Tag, und eine innere Stimme riet ihr, der morgige Tag sei für die Liebe besser geeignet als der heutige, und bis die Titanic New York erreichte, waren sogar noch vier oder fünf Tage Zeit.
»So Gott will«, lächelte Gladys. »Ja, natürlich sehen wir uns wieder, mein Beschützer. Kommen Sie zu mir, wann immer Sie mögen. Sollten wir uns nicht vorher begegnen, werde ich nach dem Abendessen im Café Parisien auf Sie warten.«
»Bis morgen«, sagte er und drückte nochmals fest ihre Hand. Dann drehte er sich um und ging davon.
Gladys schlüpfte durch die Kabinentür und verschloss sie von innen, dann zog sie sich aus und legte sich in ihr Bett. Bruchstückhafte Erinnerungen stiegen vor ihr auf, aber sie waren fern, so fern, als kämen sie aus ihrer allerfrühesten Kindheit oder gar aus einem früheren Leben. Woher kannte sie ihn? War sie ihm in einem Traum begegnet? Gab es Kontakte zwischen Seelen, die anderswo als in der Alltagswelt stattfanden und an die man sich für gewöhnlich nicht erinnerte? Mein Gott, was war nur mit ihr los? Hatte sie jemals zuvor für einen Mann etwas Vergleichbares empfunden? War sie noch die alte Gladys, die die Männer wie Puppen tanzen ließ, oder tanzte sie nun selbst wie eine Marionette an der Hand eines geheimnisvollen Spielers?
Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich mit Roger Carran zusammen tanzen sah, und sie fühlte eine süße Vorfreude in ihrem Körper, als sie sich die erotischen Kunststücke vorstellte, die sie endlich gemeinsam mit dem Menschen erleben wollte, zu dessen Glück und Freude sie ihre Fähigkeiten und ihre Schönheit von ihrem Schöpfer bekommen hatte. Sie kannte Roger, das schien ihr gewiss; und endlich, endlich, hatte sie ihren Geliebten wieder gefunden. Mit diesen glücklichen Gedanken entglitt ihr Geist in das Reich der Träume.
5. Kapitel
Sonnabend, 13. April 1912
Sie schlief lange und ließ das Frühstück ausfallen, und als sie vor dem Mittagessen einen Spaziergang über die Decks machte, begegnete sie Raubold, der mit seiner Kamera auf der Suche nach interessanten Menschen und Motiven war.
»Meine Liebe, Sie sehen jeden
Weitere Kostenlose Bücher