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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernward Schneider
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Sie ist um einiges älter als ich. Sie waren einmal ein Paar, aber statt ihrer hat er dann mich geheiratet. Und wie Faussett hat sie einen Hass auf Frauen, die sich prostituieren.«
    Langsam wurde es Gladys zu viel.
    »Wissen Sie, liebe Laura, ich weiß zwar nicht, ob Ihr Mann Jack the Ripper ist, halte es aber trotz dieses Tagebuches für sehr unwahrscheinlich – wie dem auch sei, ich kann Ihnen in dieser Angelegenheit kaum helfen, schon gar nicht hier auf der Titanic. Sie sollten sich zu einem geeigneten Zeitpunkt mit Ihrem Verdacht besser an die Polizei wenden.»
    »Polizei? Das habe ich keineswegs vor, ich will ihn nicht anzeigen. Man würde mir ohnehin nicht glauben. Ich selbst habe von ihm auch nichts zu befürchten, aber Sie, meine Liebe – Sie sind in Gefahr! Deshalb nur erzähle ich Ihnen das alles!«
    »Ich?« Gladys zielte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die eigene Brust. »Ich bin in Gefahr, sagen Sie? Warum ich?«
    »Sie wissen doch – er hasst Prostituierte.«
    Gladys blickte die Frau scharf an.
    »Ja, und?«
    »Victoria hat ihm erzählt, Sie seien eine Prostituierte aus Londons East End.«
    Gladys erwiderte nichts.
    »Ist es nicht so?«, beharrte Laura Faussett. »Sie sind eine Hure, nicht wahr?« Und sie blickte sie dabei mit apartem Augenaufschlag und großen Augen unbekümmert an.
    Eine Weile rang Gladys mit sich, wie sie auf diese Impertinenz reagieren sollte.
    »Woher will Victoria Hoyt denn wissen, dass ich eine Hure bin?«, fragte sie, indem sie ihren Zorn bezwang.
    »Sie ist ein Medium! Das wissen Sie doch! Sie besitzt hellseherische Fähigkeiten – so wie er.«
    »Ach was! Sie reden kompletten Unsinn!«
    »Sagen Sie das nicht – sie kann sehen, welchen Beruf ein Mensch hat. Sie hat bei Ihnen richtig geraten, oder? Sie haben es mir eben schon bestätigt, dass sie sich nicht geirrt hat.«
    »Ich habe nie in meinem Leben an den Straßenecken des East Ends gestanden und um Freier gebuhlt«, sagte Gladys.
    »Nein, das haben Sie bei Ihrem Aussehen auch nicht nötig«, erwiderte Laura. »Aber ob Straßendirne oder Edelprostituierte – Hure bleibt Hure. So sieht Faussett das.«
    Gladys verspürte den starken Wunsch, das Gespräch zu beenden.
    »Will Ihr Mann mir ernsthaft etwas antun? Glauben Sie das wirklich? Wir sind hier nicht im Londoner East End, sondern auf einem Schiff.«
    »Wenn ich mir keine Sorgen machen würde, hätte ich Sie nicht vor ihm gewarnt.«
    »Sie machen sich Sorgen um mich? Obwohl ich nach Ihrer Ansicht eine Hure bin?«
    »Keine Frau hat es verdient, dass ihr die Kehle durchgeschnitten wird und ein Mann sich an ihr vergeht«, sagte Laura Faussett. »Auch eine Hure nicht!«
    Gladys dachte an Faussetts unheimliche, kalte Augen. War der von ihrer Gesprächspartnerin geäußerte Verdacht möglicherweise nicht ganz so absurd, wie er ihr im ersten Moment erschienen war? Aber Faussett konnte es nicht gewesen sein, der sie in der vergangenen Nacht attackiert hatte, überlegte sie; denn als der Unbekannte sie angriff, hatte sie die Séance kaum eine Viertelstunde verlassen.
    »Danke, dass Sie mich gewarnt haben, Mrs. Faussett«, sagte Gladys in bemühter Höflichkeit. »Ich werde aufpassen, dass Faussett sich mir nicht nähert. Aber sagen Sie mir noch eines: Wie lange waren Sie und Ihr Mann gestern bei den Astors?«
    Laura Faussett warf einen Blick auf das Meer.
    »Oh, wir gingen kurz nach Ihnen.«
    »Und wohin sind Sie gegangen?«
    »Ich bin in meine Kabine gegangen.«
    »Und Faussett?«
    »Faussett und Victoria sind …« Sie brach ab, ohne den Satz zu vollenden.
    »Ja? Was war mit den beiden?«
    »Ich weiß es nicht. Mein Mann kehrte erst viel später in unsere Kabine zurück. Ich habe da schon geschlafen.«
    Scheinbar offen sah Laura Faussett sie an.
    Gladys hatte genug von dieser Person. Sie verabschiedete sich und ging ihres Weges.
    In der zwanglosen Atmosphäre des Rauchsalons fand sie ein wenig Entspannung. Zum Glück ließ man sie dort in Ruhe. Als der Ober kam, bestellte sie einen Mokka. Nicht Phils Feinde waren also hinter ihr her, sondern Jack the Ripper, den es im fortgeschrittenen Alter nach einem neuen Opfer verlangte. Obwohl das Ganze zu absurd war, sich ernsthaft mit Laura Faussetts Verdacht zu beschäftigen, konnte sie nicht darüber lachen. Die Botschaft, die man ihr hatte zukommen lassen wollen, war ja in Wahrheit nicht die, dass Jack the Ripper sie bedrohte, sondern man hatte ihr zu verstehen geben wollen, dass man sie für eine Hure hielt, die sich in

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