Todesengel (Gesamtausgabe)
nicht die Finger von Mirjam ließ, einen beispiellosen Rosenkrieg an. Und was sein Chef trotz aller Mühe nicht geschafft hatte, gelang der Ehefrau beinahe spielend. Becker erwachte aus einem langen Traum, begann wieder klar zu denken und kam nach einer schlaflosen Nacht zum Schluss, dass keine Frau der Welt es wert war, die Existenz der Familie aufs Spiel zu setzen und künftig am Rande des Existenzminimums dahinzuvegetieren.
Mirjam nahm die Nachricht vom Ende der Beziehung äußerlich gefasst auf, versicherte Becker sogar, ihm in platonischer Freundschaft verbunden zu bleiben, doch sah es in ihrem Inneren völlig anders aus. All das Selbstbewusstsein, das sie seit dem Beginn des Liebesrausches aufgebaut hatte, entwich aus ihr wie die Luft aus einem geplatzten Luftballon, längst verdrängt geglaubte Komplexe kehrten zurück und mit ihnen das Gefühl, keinem Mann trauen zu können. Und noch etwas kam in ihr hoch, die noch sehr vage Erinnerung an ein schlimmes kindliches Erlebnis mit einem Bösewicht in der Hauptrolle...
Über Ostern flog sie, wie lange geplant, mit zwei Mannschaftskameradinnen nach London und hoffte inständig, in der britischen Metropole auf andere Gedanken zu kommen, merkte aber schnell, dass sie sich verspekuliert hatte. Sie war viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie den Aufenthalt an der Themse hätte genießen können und so lag sie am zweiten Abend ihres Aufenthalts einsam und verlassen im Hotelbett, während die Freundinnen, denen sie etwas von heftigen Monatsbeschwerden erzählt hatte, sich in einem der zahlreichen Klubs amüsierten.
Mirjam drehte sich erst auf die linke, dann auf die rechte Seite, überlegte, ob sie trotz der stickigen Luft im Zimmer wegen des Verkehrslärms das Fenster schließen sollte, ließ es dann aber sein und stand stattdessen auf, um ein Bier aus der Minibar zu holen. Das Getränk schmeckte noch scheußlicher, als sie befürchtet hatte, ließ sie aber ermüden und sie legte sich wieder hin, nahm Kuschelbär Berti in ihre Arme und hielt vor dem Einschlafen Zwiesprache mit ihm, wobei sie zwangsläufig auch seinen Part übernahm.
„Wie geht es dir?“, fragte sie das brave Stofftier und entgegnete dann für Meister Petz:
„Ganz gut, Mirjam, aber um dich mache ich mir Sorgen! Du hängst hier herum und bemitleidest dich, obwohl es dir doch ganz gut geht! Oder habe ich etwas verpasst?“
„Nein, nein“, erwiderte sie und wählte für sich eine deutlich höhere Stimmlage, „aber ich frage mich, warum ich immerzu an den Tag im Zoo denken muss, seit ich bei diesem Engholm einen Racheakt nicht mehr ausschließen kann...“
„Du meinst den Tag bei den wilden Tieren, als du sechs oder sieben warst?“
„Exakt“, bestätigte sie, „aber frag mich nicht, was damals passiert ist! Ich weiß ja nicht mal, welcher Mann mich damals begleitet hat und erst recht nicht, was er danach mit mir angestellt hat! Oder bist du schlauer als ich? Du warst doch bestimmt auch dabei, als der Kerl mich ins Schlafzimmer gezerrt hat!“
Berti antwortete nicht, sondern verfiel in tiefes Schweigen und Mirjam streichelte ihn, um über die Trostlosigkeit ihrer Existenz wegzukommen. Dann endlich sprach der Stoffbär wieder, erschreckte sie mit seinen Worten aber über alle Maßen:
„Natürlich war ich dabei! Schließlich sind wir seit deinem zweiten Geburtstag unzertrennlich! Und im Gegensatz zu dir habe ich auch nicht vergessen, dass der böse Mann dir wehgetan hat! Deshalb hast du doch so große Probleme bei der Liebe...“
Mirjam schüttelte den Kopf, schluchzte herzerweichend und presste den Stoffbären an sich, als könnte er ihr im Schattenreich beiseite stehen, in das sie gleich eintauchen würde und in dem es von schamlosen Gestalten wimmelte, die ihr die Unschuld rauben wollten…
12.
Ein Rotkehlchen hatte sich den höchsten Baumwipfel weit und breit für seinen Minnegesang ausgesucht und zwitscherte voller Hingabe, ein Eichhörnchen huschte vor dem Geistlichen über den gepflasterten Vorplatz von Sankt Blasius und die Sonne meinte es für den letzten Samstag im Monat April überaus gut, entwickelte schon ziemlich viel Kraft und so war es kein Wunder, dass Peter von Hoff, als er die neugotische Kirche inmitten des mehrheitlich von Türken und Arabern bewohnten Kiezes schließlich betrat, keinen einzigen Gläubigen sah, dem er an diesem Samstagnachmittag die Beichte abnehmen sollte.
Wahrscheinlich hielten sich seine wenigen Schäfchen in ihren Kleingärten auf, um
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