Todesengel (Gesamtausgabe)
noch ein bisschen mehr hinter ihren Ambitionen oder dachte sie wie die meisten jungen Kolleginnen, denen es nur um die Karriere ging? Er bedauerte, nicht in den Kopf der Oberkommissarin hineinschauen zu können und im ungewissen darüber zu bleiben, welche Motive die Frau bewegten, mit der er vielleicht schon bald seiner Gattin untreu werden würde. War es nicht irgendwie absurd, schoss es ihm durch den Kopf, dass er nichts Wichtigeres zu tun hatte, als über Voraussetzungen und Bedingungen eines Seitensprungs zu spekulieren, während Carmen sich mit ihrer pflegebedürftigen Mutter abplagte? Aber vielleichtzermarterte er sich völlig umsonst das Hirn, dachte Mirjam gar nicht daran, den vorweihnachtlichen Flirt mit ihm fortzusetzen oder gar zu intensivieren! Er würde jedenfalls, auch wenn es ihm schwergefallen, nicht den ersten Schritt machen, dazu konnte er zu viel verlieren, wenn seine Frau ihm auf die Schliche kam, denn seine Ehe aufs Spiel setzen wollte er wegen einer Affäre auf keinen Fall…
Mirjam Berndt überlegte derweil, was sie in der Hansestadt anziehen sollte. Für das Treffen mit Schieferbein und ihren Leuten würde sie sich nach der Ankunft in Hamburg nicht extra umziehen, dafür reichten die hellblauen Jeans und der weiße Kaschmirpullover, die sie während der Fahrt tragen würde. Aber was würde ihr am Abend am besten stehen und von welchen Absichten war ihre Kleiderwahl eigentlich gesteuert? Als sie sich beim Tanzen auf dem Weihnachtsfest an ihren Vorgesetzten geschmiegt hatte, war ihr mit einem Mal klar geworden, welchen Nachholbedarf sie im Umgang mit der Männerwelt hatte, trotz der vielen Sportler, die sie als aktive Handballerin bei einem Berliner Drittligisten kannte.
Wie oft hatte sie eigentlich schon mit einem Kerl geschlafen? Zweimal? Dreimal? Viel häufiger jedenfalls nicht und wenn sie berücksichtigte, dass sie bald das dritte Lebensjahrzehnt vollendete, musste sie sich von ihren Mannschaftskameradinnen wohl zu Recht vorwerfen lassen, ein Mauerblümchen zu sein, trotz ihres ansehnlichen Körpers und des hübschen, mit Sommersprossen übersäten Gesichts, das es Becker offenbar besonders angetan hatte. Aber woran lag es, dass ihr Sexualleben mehr oder weniger brach lag? An mangelnder Attraktivität jedenfalls nicht, schließlich konnte, sie, wenn sie wollte, so viele Verehrer wie Finger an den Händen haben. Aber was half das, wenn sie sich störrisch wie ein Esel anstellte, sobald ein Mann ihr an die Wäsche wollte? Irgendetwas in ihrem Oberstübchen flüsterte ihr dann ein, sie solle Abstand halten, alle Kerle seien Schweine, obwohl sie letztlich nicht wusste, worauf ihre Verklemmtheit zurückzuführen war. Doch jetzt spürte sie die Chance, sich endlich von ihren Berührungsängsten zu befreien, würde sie ihrem Chef morgen zu fortgeschrittener Stunde schöne Augen machen und sich ihm, wenn er anbiss, hingeben, wie sie es noch nie getan hatte. Und ein schlechtes Gewissen brauchte sie trotz der viel beschworenen weiblichen Solidarität auch nicht zu haben, weil sie Egon nicht für sich allein haben wollte.
Dann ist das kleine Schwarze wohl genau das Richtige, ging es ihr durch den Kopf und sie tänzelte vergnügt ins Bad, um das richtige Parfüm für Beckers Verführung auszusuchen.
10.
Egon Becker rührte mit dem Strohhalm sein Cocktailgetränk um, das auf den exotischen Namen Copacabana hörte, glatte 8 € kostete und den Geschmack von Zitronen, Feigen und weißem kubanischen Rum vereinte, ließ den Blick über das geschmackvolle Interieur der Bar schweifen und beäugte schließlich die ihm gegenübersitzende Mirjam, die sich nach dem Treffen mit den Hamburger Kollegen umgezogen hatte und in ihrem Kleid zum Anbeißen aussah.
Aber er würde nicht in die Offensive gehen, nicht ohne die Gewissheit, dass die Oberkommissarin ihn von ganzem Herzen begehrte und deshalb begann er das Gespräch nicht mit Komplimenten, sondern mit der Frage nach ihrem Eindruck von der Zusammenkunft mit Schieferbein, Albers, Staatsanwalt Schnoor und Kriminaltechniker Fabian. Die Oberkommissarin nippte erst einmal an ihrem Whisky Sour, sah ihm dann tief in die Augen und lächelte so betörend, wie es nur Frauen vermögen:
„Du wolltest mich eigentlich was ganz anderes fragen, oder?“ Becker nickte fast unmerklich und Mirjam fuhr fort:
„Der Abend ist noch lang und du musst nichts überstürzen, ich laufe dir schon nicht davon! Aber zur Sache. Ich halte Frau Schieferbein für eine fähige
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