Todesengel (Gesamtausgabe)
der Tristesse des Alltags zu entfliehen, waren mit Kind und Kegel in die Naherholungsgebiete der Hauptstadt aufgebrochen oder feuerten, wenn sie sich für Fußball interessierten, im Olympiastadion ihre Hertha an. Wehmütig erinnerte sich der 45-jährige Kaplan an seine Kindheit, als sich die Priester vor bußfertigen Katholiken kaum retten konnten, gab es doch noch die feste Überzeugung, dass der Mensch am Ende seiner Tage vor den Schöpfer treten und, wenn er seine Sünden nicht rechtzeitig bereut hatte, im ewigen Höllenfeuer schmoren musste. Auch er hatte sich in seiner südbadischen Heimat häufig die Schrecken der Verdammnis ausgemalt, war mitten in der Nacht aufgeschreckt, wenn er etwas ausgefressen und noch keine Gelegenheit gefunden hatte, seine Freveltat dem Gemeindepfarrer anzuvertrauen, der viele Jahre später, nach einem ebenso kleinen wie unverzeihlichen Sündenfall, davonjagt worden war, aber wer fühlte sich so frei von jeder Schuld, dass er den ersten Stein werfen durfte, ohne sich den Zorn des Allmächtigen zuzuziehen? Er jedenfalls nicht, war er doch selbst so tief gesunken, dass er von Glück reden konnte, immer noch der Kirche zu dienen, statt vor fünf Jahren im Gefängnis gelandet zu sein.
Der Geistliche schritt gemächlich auf den Hochaltar zu, bekreuzigte sich vor ihm und schwenkte nach rechts zur Sakristei, öffnete die Tür zu ihr mit seinem Generalschlüssel und streifte sich das vom Küster bereitgelegte geistliche Gewand über. Musterte sich lange im Spiegel und strebte dann dem Beichtstuhl zu, in der Hoffnung, dass wenigstens einige Büßer den Weg zu ihm finden würden. Viel Hoffnung hatte er aber nicht und weil es auf Dauer recht ermüdend sein konnte, sich die Zeit mit der Lektüre der Heiligen Schrift zu vertreiben, hatte er unter seiner Soutane ein Werk über die Entwicklung der Heraldik im ausgehenden Mittelalter versteckt, ein Genuss für einen Wappenkundigen wie ihn, der dieses Spezialgebiet schon seit vielen Jahren beackerte.
Nach wenigen Minuten hatte er sich so sehr in das Buch vertieft, dass er alles um sich herum vergaß und so erschrak er fast zu Tode, als er das Stakkato von Pfennigabsätzen vernahm, eine Parfümwolke zu ihm herüber wehte und Sekunden später die Fleisch gewordene Versuchung neben ihm niederkniete, nur durch eine in Kopfhöhe durchlöcherte Holzwand von ihm getrennt. In einer Mischung aus Gier und Abscheu sog er den Duft ein, den die Frau verströmte, legte das Buch beiseite und begrüßte die Gläubige mit der Standardeinleitung: „Gelobt sei Jesus Christus!“, worauf er zunächst nur ein Räuspern vernahm, ehe die Sünderin die obligatorische Ergänzung: „In Ewigkeit, Amen!“ da hinhauchte und ihm mit ihrer Stimme fast die Besinnung raubte. Dann schwieg die Frau wieder und von Hoff fühlte sich höchst unwohl in seiner Haut, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gab. Aber irgendwie ging von der Fremden eine Vertrautheit aus, die ihm Angst machte, weil er sie nirgendwo einordnen konnte, aber sicher war, dass sie ihn kannte und genau wusste, warum sie zu ihm gekommen war.
Nach einer halben Minute, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, verlor er die Geduld und herrschte die Unbekannte an: „Ich habe meine Zeit nicht gestohlen und es wollen auch noch andere Gläubige zu mir, also beginnen Sie endlich mit Ihrer Beichte!“
Wieder keine Reaktion, nur ein leises Kichern von irgendwoher durchbrach die Stille.
„Nun machen Sie schon!“, brüllte er in einem Anflug von Jähzorn und endlich begann die Frau zu sprechen:
„Meine letzte Beichte war vor fünf Jahren, ich bin…“ Ungläubig fragte er dazwischen: „Vor fünf Jahren?“ und die Fremde wiederholte: „Meine letzte Beichte war vor fünf Jahren, ich bin 20, ledig und keine Jungfrau mehr. Wahrscheinlich habe ich gegen alle Gebote verstoßen, vor allem gegen das erste, weil ich es nicht mehr über mich bringe, zum Herrn zu beten! Dafür zürne ich ihm viel zu sehr und der Grund für meine Wut ist, dass es ihm völlig egal ist, welche Verbrechen die Menschen begehen! Jedenfalls ist er nie da, wenn die Schwachen und Beladenen ihn brauchen!“
Von Hoff fühlte sich wie nach einem ausgedehnten Trinkgelage und fragte sich, was in ihm vorging. Warum reagierte sein Magen bei den blasphemischen Ausfällen der Unbekannten so allergisch, verspürte er tausend Stiche in der Herzgegend, als würde ihm Satan die Brust durchbohren? Er fing an wie ein Parkinsonkranker zu zittern, sabberte, ohne es zu
Weitere Kostenlose Bücher