Todesengel (Gesamtausgabe)
Kinder sind eh mit ihren Hausaufgaben beschäftigt und wenn ich die dicken Wolken am Horizont sehe, kann ich mir
leicht ausrechnen, dass es bald zu regnen beginnt!“
Becker haderte im Grunde immer noch mit seinem Schicksal, doch spürte er zugleich ein Verlangen, wie er es zuletzt nur noch bei Mirjam erlebt hatte und fügte sich in die Rolle des domestizierten Ehemannes. Schälte brav die Kartoffeln und sinnierte dabei über den prinzipienlosen Freund zwischen seinen Beinen, dem es offensichtlich egal war, ob ihn die Geliebte oder die Ehefrau in Stimmung brachte.
Im Flur läutete das Telefon und Becker stöhnte: „Nicht schon wieder!“, weil er spürte, dass seine Kollegen ihn erreichen wollten, aber Carmen hatte sich schon auf den Weg gemacht und rief wenig später:
„Egon, kommst du bitte? Dein Chef!“
„Hab ich es doch gewusst“, brummte der Hauptkommissar, „die wollen mich fertig machen und gönnen mir nicht mal, dass ich einige Überstunden abbaue...“
Doch während er noch herum zeterte, war er schon unterwegs zum Telefon, weil Frankenstein sich tagsüber nur bei ihm meldete, wenn es wirklich brannte. Immer noch die Schürze um den Bauch und einem biederen Hausmann mehr als einem gewieften Detektiv ähnelnd, nahm er den Hörer in Empfang, meldete sich mit seinem Namen und hörte sich an, was der Kriminaloberrat ihm mitzuteilen hatte. Versprach anschließend, umgehend zum Großen Tiergarten zu kommen und hatte in nächsten Augenblick schon die geplante Schmuserei mit seiner Frau verdrängt…
Auf dem Weg zum Tatort erinnerte sich Becker an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ und sah sich in einer ähnlichen Situation wie der in einer Zeitschleife gefangene Hauptdarsteller. Wie vor zwei Monaten hatte ihn die Nachricht vom Mord an seinem freien Tag erreicht und der Täter sich für sein Verbrechen eine Grünanlage, wenn auch eine viel größere als im März, ausgesucht. Ihm fiel die These ein, dass sich Geschichte nicht wiederhole, es sei denn, als Farce, aber er weigerte sich, anzuerkennen, dass es sich mit einer Mordserie ähnlich verhalte, jede weitere Tat zur Karikatur verkomme und die Ermittlungen der Kripo zur Harlekinade.
Dreißig Minuten nach Frankensteins Anruf erreichte er den Kleinen Stern, bog in die Bellevueallee ein, kam wenig später am Verwaltungsgebäude des kommunalen Gartenbauamts vorbei und stellte seinen Wagen neben einem Rettungsfahrzeug ab, dessen Besatzung Stunden, wenn nicht Tage zu spät zum Einsatzort gekommen war, um dem neuesten Opfer des Serienkillers helfen zu können. Rund um den Tatort hatten sich bereits die üblichen Verdächtigen, von der Journaille über neugierige Spaziergänger bis zu den Kriminaltechnikern und Ermittlern seiner Sonderkommission eingefunden und er hatte Mühe, sich durchs Gebüsch zu schlagen, in dem die noch nicht identifizierte Leiche lag.
„Danke, dass du gekommen bist!“, meinte Frankenstein, wandte sich dann wieder an Gerstenmaier und schüttelte zornig den Kopf: „Was, um alles in der Welt, bringt Menschen dazu, so etwas zu tun?“
Der Pathologe zuckte mit den Schultern und blieb eine Antwort schuldig, weil es die Bestie diesmal auf die Spitze getrieben und alles verhöhnt hatte, was einem Katholiken heilig war. In Hände und Füße des mit einer verschlissenen Soutane bekleideten, ansonsten aber nackten Mannes waren Stahlnägel getrieben, den Schädel schmückte eine kunstvoll geflochtene Dornenkrone und in der offenen Wunde zwischen den Beinen steckte ein Rosenkranz, der die Farbe des Blutes angenommen hatte und von grausiger Schönheit war.
„Wir fassen den irren Killer, und zwar bald!“, schwor Becker und schaute in die Runde, doch sah er den müden Gesichtern an, dass die Kollegen längst resigniert hatten, nicht mehr an einen schnellen Fahndungserfolg glaubten undvon ihm nur schwer zu motivieren sein würden, wegen der Mordserie ihr Privatleben weiter hintanzustellen. Und dann entdeckte er Mirjam, die sich von den anderen Ermittlern etwas abgesetzt hatte und so tat, als ginge das Ganze sie nichts an. War ihr Trennungsschmerz wirklich so grenzenlos, dass sie nicht mehr zu sich fand? Sah sie in ihm jetzt einen Feind und in den anderen Kollegen seine Verbündeten, die es genauso wenig wie er verdient hatten, von ihr beachtet zu werden? Bei allem Verständnis für ihre Situation konnte er nicht durchgehen lassen, dass sich seine ehemalige Geliebte immer mehr gehen ließ, dazu waren die Personalressourcen der
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