Todesengel: Roman (German Edition)
einmal an regnerischen Tagen. »Bei jedem Wetter draußen sein, das ist im Grunde gesund«, hatte er ihr einmal erklärt. »Stress hab ich bloß, wenn ich im Postamt bin. Zustellstützpunkt heißt das inzwischen. Und so, wie das Wort klingt, ist es dort auch.«
Sie hatte ihm von ihrem Problem erzählt und eine Übereinkunft mit ihm getroffen: Wenn sie Briefe aufzugeben hatte, stellte sie eine bestimmte rote Vase ins Fenster, worauf Herr Gellert bei ihr klingelte, um die Sachen mitzunehmen. Sie dürfe nur niemandem etwas davon sagen, hatte er ihr eingeschärft, denn das sei gegen die Vorschriften. Dabei nahm er ihre Briefe nur bis zum Postbriefkasten an der U-Bahn-Haltestelle mit, um sie dort einzuwerfen.
Ihre Sorge war nur, dass Herr Gellert eines Tages einen anderen Bezirk zugewiesen bekommen könnte. Das geschehe ab und zu, hatte er ihr erzählt, und da könne man auch nichts machen.
Jetzt klingelte er bei den Nachbarn oberhalb. Ein Einschreiben, wie es aussah. Die Nachbarn waren erst letztes Jahr eingezogen, Victoria kannte sie nicht. Die Frau unterschrieb das Formular auf dem Mäuerchen neben ihrem Treppenaufgang, machte ein missmutiges Gesicht dabei. Offenbar kein erfreuliches Schreiben. Na, das waren Einschreiben ja auch selten.
Er verabschiedete sich mit einem letzten Kopfnicken, wandte sich ab …
… und ging vorbei. Nicht einmal ein Brief für sie, nicht einmal Werbung.
Victoria trat vom Vorhang zurück, legte die Hand auf die Brust, horchte in sich hinein. War sie nun enttäuscht? Oder im Grunde erleichtert? Schwer zu sagen. Beides.
Sie ging wieder ins Wohnzimmer. Da stand immer noch die Teetasse, aus der der Kommissar getrunken hatte. Ganz eingetrocknet war sie inzwischen. Victoria trug sie in die Küche.
Sie hatte so viele Jahre gewartet, sagte sie sich, da kam es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht mehr an.
Ingo Praise saß über den Unterlagen der heutigen Studiogäste und machte sich Sorgen. Die Quote seiner Sendung sank von Tag zu Tag, und die Leute, die er heute Abend im Studio hatte, würden an diesem Trend nichts ändern: ein junger Mann, der in einem Schnellrestaurant ohne ersichtlichen Grund brutal zusammengeschlagen worden war – es gab ein Video der Überwachungskamera, das die gesamte Szene gestochen scharf zeigte, auch die Gesichter der beiden Angreifer, nach denen die Polizei trotzdem immer noch ergebnislos fahndete –, und eine ältere Frau, die vor fünf Jahren während eines damals ziemlich spektakulären Bankraubs Geisel der Räuber gewesen war und seither unter Angstattacken litt.
Opfer beide. Und Rado hatte recht: Die Geschichten von Opfern wollte niemand hören.
Genau in dem Moment, in dem Ingo das dachte, klopfte es, und Rado streckte den Kopf zur Tür herein. »Komm mal mit«, sagte er. »Schnell.«
Ingo folgte ihm in die düstere Halle vor den Aufzügen, wo auf einem großen Flachbildschirm den ganzen Tag das aktuelle City-TV-Programm lief.
»Da.« Rado wies auf den Schirm. »Die Nachrichten. Fangen gleich an.«
Sie sahen zu, wie die Uhr auf die volle Stunde zu tickte, gefolgt von einer Fanfare und der Animation des City-Media-Logos, mit der jede Nachrichtensendung begann. Das Gesicht von Jürgen Songda, dem Nachrichtensprecher, erschien, der wie immer mit knappem Nicken und seiner sonoren Stimme sagte: »City Media – die Nachrichten – guten Tag.«
Dann verlas er vor einem Standbild aus dem Video von Irmina Shahid die Top-Meldung.
»Im Rahmen der Fahndung nach dem sogenannten ›Racheengel‹ hat die Polizei heute eine erste Verhaftung durchgeführt.« Man sah den Eingangsbereich einer großen militärischen Anlage und einen Mann in Soldatenuniform, der von Polizisten abgeführt wurde. »Nähere Angaben zur Identität des Mannes und zu den Motiven der Verhaftung machte der Staatsanwalt aus, wie es hieß, ermittlungstaktischen Gründen nicht.«
Schnitt auf das hochnäsige Gesicht Lorenz Ortheils, wie er vor einem Wald von Mikrofonen erklärte: »Aus ermittlungstaktischen Gründen kann ich Ihnen weder zur Identität des Mannes noch zu den Motiven seiner Verhaftung etwas sagen.«
Nicht gerade eine journalistische Meisterleistung, diese Meldung, schoss es Ingo durch den Kopf.
Dann traf es ihn wie ein Hammer: War das etwa der Racheengel? Ein Soldat, der die Verteidigung in die eigenen Hände genommen hatte? Glühend heiß ging ihm auf, dass das unter Umständen sogar eine Erklärung für das geheimnisvolle Erscheinungsbild sein mochte: eine
Weitere Kostenlose Bücher