Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
Vom Netzwerk:
die Interviews abgehandelt, lief die Studiouhr auf die letzten Minuten zu, wurde es Zeit, zu sagen, was heute, was jetzt gesagt werden musste. Ingo stand auf, trat nach vorn an die Bühne.
    »Das, was wir heute Abend gehört haben – und auch alles, was wir in den vergangenen Sendungen dieser Reihe gehört haben – über Schmerzen, Beschädigungen und Verletzungen«, begann er, »all das ist Leid, das diejenigen, denen es widerfahren ist, nicht verdient haben. Es wurde ihnen zugefügt von Menschen, die mit ihren Taten bewiesen haben, dass ihnen andere Menschen vollkommen gleichgültig sind – und die, wenn Sie mich fragen, diese minimalen, diese fast nicht spürbaren Strafen, die sie dafür bekommen, ebenfalls nicht verdient haben.«
    Die Studioscheinwerfer leuchteten ihm entgegen wie kleine, scharfe Sonnen. Er sah sie gar nicht, sein Blick, sein Empfinden galt dem Dunkel dahinter. Er sprach nicht zu den Kameras, er sprach nicht zu den Menschen auf der Zuschauertribüne, er sprach zu der Dunkelheit hinter ihnen, die mehr war als all das, die die ganze Welt war, Zukunft und Vergangenheit zugleich.
    »Doch so unverdient, so ungerecht das Leid der Opfer auch ist, es ist geschehen und nicht mehr zu ändern. Es muss darum gehen, zu verhindern, dass noch mehr solche Dinge passieren – und ungesühnt bleiben. Es muss darum gehen, die Täter abzuschrecken. Unsere Polizei leistet das nicht mehr, unser Rechtswesen noch viel weniger. Ich weiß nicht, was in Richtern vorgeht, die sich gegenseitig darin überbieten, Gewalttäter so schnell wie möglich wieder auf freien Fuß zu setzen, aber Respekt verschaffen sie sich und den Regeln unserer Gesellschaft damit jedenfalls nicht.«
    Beifall. Das Publikum war wieder bei ihm. Er spürte einen bitteren Geschmack im Mund.
    »Stattdessen verfolgt unsere Polizei und Justiz mit enormem Aufwand alle, die wenigstens versuchen , der Gerechtigkeit Respekt zu verschaffen. Heute hat die Staatsanwaltschaft jemanden nicht nur verhaftet, sie hat seine Verhaftung regelrecht inszeniert: Berichterstatter der Medien wurden vorab informiert, um dabei zu sein, um Bilder in alle Wohnzimmer zu übertragen, die zeigen sollen, wie es denen ergeht, die Unschuldige beschützen.«
    Ein Wink, und auf der Videowand lief die Sequenz ab, die er heute Mittag das erste Mal gesehen hatte und auf dem Schnittcomputer danach noch hundertmal.
    »Wer ist das?«, fragte Ingo. »Die Staatsanwaltschaft hüllt sich in Schweigen, aber sie tut es auf eine Weise, die suggerieren soll: Das ist der Racheengel. Wir haben ihn. Er wacht nicht länger über uns.« Er wies auf die Videowand. »Aber schon ein einfacher Vergleich dieser Aufnahmen mit denen, die wir vom echten Racheengel haben, zeigt, dass das nicht stimmen kann. Sehen Sie selbst.«
    In Wirklichkeit war der Vergleich alles andere als einfach gewesen. Die Videotechnikerin mochte hässlich sein wie die Nacht, aber was ihre Geräte anbelangte, hatte sie es drauf, beherrschte sie diese Technik wie niemand, den Ingo je getroffen hatte. Nichtsdestotrotz hatten sie stundenlang mit dem Videomaterial experimentieren müssen, um zwei Sequenzen zu finden, die einander einigermaßen entsprachen und sich optisch ins Verhältnis setzen ließen. Und diesen Vergleich sahen die Zuschauer jetzt.
    Zwei, drei Schritte des Mannes, der auf einem Truppenübungsplatz draußen in der Pampa verhaftet worden war: halb transparent, die Umgebung maskiert und ausgeblendet. Anschließend zwei, drei Schritte des überirdisch leuchtenden Racheengels, rasche, federnde Schritte, was man auch in der Zeitlupe noch gut sah. Schließlich beide Sequenzen übereinandergelegt, im gleichen Takt, am Schluss verharrend. Grüne Hilfslinien, die Körpermaße wie Schulterbreiten, Beinlängen und dergleichen miteinander verglichen.
    »Wenn es Ihnen jetzt so geht wie mir«, sagte Ingo in die atemlose Stille hinein, »dann sehen Sie hier zwei völlig unterschiedliche Männer. Wenn die Polizei darauf aus war, den Racheengel zu verhaften, dann hat sie den Falschen verhaftet. Dazu passt, dass wir kein Wort dazu gehört haben, ob man die Waffen bei ihm gefunden hat. Kein Wort dazu, wie man sich die engelartige Erscheinung erklärt.«
    Beifall. Aber wieso so zögerlich? Empörung kochte wieder in Ingo hoch, erfüllte ihn mit glühender Hitze.
    Einem spontanen Einfall folgend, trat er einen Schritt auf die aktive Kamera zu, näher, als man es tun sollte, und sagte in das dunkle Linsenauge hinein: »Racheengel! Ich glaube an

Weitere Kostenlose Bücher