Todesengel: Roman (German Edition)
kommt darauf an«, sagte Ambick. »Wieso? Ist er denn krank?«
»Er hat ein Ösophaguskarzinom. Speiseröhrenkrebs«, fügte sie erklärend hinzu. »Unheilbar, praktisch gesehen. Er hat wohl in Amerika eine Therapie angefangen, sie aber gleich wieder abgebrochen, weil er sie sich nicht leisten konnte. Wobei – sie hätte eh nichts gebracht. Er hat einen C15.8, da ist die Prognose denkbar schlecht. Diese Art Karzinome sind so symptomarm, dass sie meistens viel zu spät diagnostiziert werden, erst recht bei jungen Männern, wo sie extrem selten vorkommen.«
Ambick dachte an den Bericht aus den USA. Davon hatte nichts darin gestanden. Hatte Alexander Wenger die Chemotherapie gemacht, ohne seinem Freund etwas von seiner Krankheit zu verraten? Schwer zu sagen. Vielleicht hatte Westham dieses Detail auch einfach nur verschwiegen.
»Und wieso geht er hier nicht zu einem Arzt?«, fragte Ambick.
Sie hob die Schultern. »Ich krieg ihn nicht dazu. Er kann nichts mehr essen. Am Anfang hat er noch flüssige Nahrung heruntergebracht, Suppen, Breie, solche Sachen. Aber inzwischen kann er selbst Wasser nur noch mit Mühe trinken. Er bräuchte eine OP, aber er will nicht. Er will einfach nicht.«
Sie kamen nur langsam vorwärts. Der Verkehr floss träge, wie metallenes Blut durch Adern aus Asphalt.
»Ich glaube ja, das kommt von dem Zeug, das er immer genommen hat«, fuhr sie erbittert fort. »Dieses Peyote. Das wird aus Kakteen gewonnen, die man auf dem Fensterbrett züchten kann – das wusste ich auch nicht. Und die Kakteen zu besitzen ist nicht mal verboten.«
»Hierzulande eine eher seltene Form des Drogenkonsums«, sagte Enno von hinten. »Aus polizeilicher Sicht relativ unproblematisch.«
»Wie war sein Verhältnis zu Drogen früher?«, fragte Ambick. »Bevor er in die USA ist?«
Ihr Blick war glasig, in Erinnerungen verloren. »Er hat alles ausprobiert. Den Sinn des Lebens gesucht. Gut, das macht jeder Jugendliche so, aber bei ihm war es härter, entschlossener, radikaler. Er hat sich mit Religionen beschäftigt, mit Psychologie, mit Philosophie. Hat tausend Bücher gelesen, hat eine Zeit lang für Sartre und Camus geschwärmt, dann für Zen, dann für Yoga … Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der die Bibel von vorne bis hinten durchgelesen hat. Und er hatte einen unglaublichen Verschleiß an Mädchen. Er war da völlig unerschrocken – der Typ, der zu einer einfach hingehen und sagen kann: Hi, ich würd gern mit dir schlafen . Und bei dem das auch funktioniert. Ja, und Drogen. Davon hab ich nicht so viel mitgekriegt, aber ich weiß, dass ihn das interessiert hat. Bewusstseinserweiterung. Erfahrungen. Der Sinn des Lebens, wie gesagt.«
»Hatte das etwas zu tun mit –?«
»Mit dem Vorfall auf der Überallbrücke? Ja. Klar. Davor war er ein normaler Junge, der Fußball gespielt und seine Hausaufgaben vergessen hat. Danach hat er sich in einen Berserker verwandelt. Er war übrigens auch auf einmal in der Schule gut, trotz allem, was er sonst getrieben hat. Was heißt gut? Überragend. Sein Stipendium hat er nicht für nichts bekommen.«
»Und wieso Chemie?«
»Er wollte neue Designerdrogen entwickeln.«
»Oh.« Sie näherten sich der Klinik. Hospital am Weißen Ring verkündete ein schlichtes Metallschild an der Zufahrt. Ein Krankenwagen kam ihnen entgegen, gemütlich, ohne Blaulicht. »Hat er Ihnen von seiner Erfindung erzählt?«
»Ein bisschen. Eine Kunstfaser mit irgendwelchen revolutionären Eigenschaften. Und dass ihm die Idee dazu während eines Peyote-Trips gekommen ist. Das war für ihn das Wichtigste daran. Peyote, das ist für ihn irgendwie so, als spricht Gott mit ihm.« Theresa Diewers seufzte. »Er hat gesagt, anfangs habe er geglaubt, das sei der Durchbruch, diese Faser. Seine Bestimmung.«
Sie hielten vor dem Haupteingang. Ein Dutzend Leute in Bademänteln standen vor den Glastüren, manche mit einem Infusionsständer neben sich, rauchten und schauten gleichgültig herüber.
»Was heißt ›anfangs‹?«, fragte Ambick.
»Er meint, er hat sich da geirrt. Das sei nur eine Etappe gewesen. Er hätte eine andere Aufgabe.«
»Und was für eine?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das will ich, glaube ich, gar nicht wissen.« Sie legte die Hand auf den Türgriff, drehte sich noch einmal um, sah ihn unsicher an. »Herr Kommissar – ich habe für meinen Bruder eine Packung Morphiumtabletten gestohlen«, gestand sie leise. »Aber die sind seit heute Morgen aus. Er wird bald Schmerzen haben.
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