Todesengel: Roman (German Edition)
Melanie hatte den Rest des Manuskripts wohlweislich weggeräumt; vermutlich lag es in einer der zahllosen Schubladen. Die wollte er lieber nicht durchstöbern. Er überflog den Text, stutzte. Na, so was – in Necis neuem Buch ging es ausgerechnet um Jugendgewalt und ihre Ursachen! Das passte ja mal wieder wie die Faust aufs Auge.
Ingo las alles, was er in der Hand hielt, von vorn, versuchte ernsthaft zu verstehen, was sein Nachfolger an Melanies Seite da in pompös geschwollenem Professorendeutsch von sich gab. Dabei sollte das gar kein Fachbuch werden, wo Imponieren ja bekanntlich vor Informieren ging, sondern ein populärwissenschaftliches Sachbuch für einen Verlag, dessen Name sogar Ingo etwas sagte. Neci hatte wirklich Glück, nicht von seinen Tantiemen leben zu müssen.
Flügelrascheln über seinem Kopf, dann landete der Graupapagei auf seiner Schulter und krächzte: »Eeengo!«
Ingo sah kaum auf, las weiter. Natürlich galten auch Professor Necis Gedanken einzig den Tätern; Opfer kamen nur als deren Attribute vor (»vergewaltigte vier junge Frauen«, »verletzte mehrere Passanten mit Messerstichen« und so fort). Es ging um die Reifeentwicklung der Täter, ihre Schuldfähigkeit, um fehlende Anerkennung und missglückte Integration und die Versäumnisse der Gesellschaft, die dazu geführt hatten.
Tja. Rado hatte einfach recht. Opfer waren nun mal nicht sexy. Ingo knallte die geretteten Seiten auf den Tisch und wuchtete eine kleine, vermutlich echt bronzene Büste als Beschwerer darauf, von der er nicht wusste, wen sie eigentlich darstellen sollte. Es war ihm auch egal.
Mit dem Vogel auf der Schulter verließ er das Arbeitszimmer. Melanie kam aus einem Zimmer geschossen und kreischte auf, als sie ihn sah. Nachdem Ingo ihr versichert hatte, dass die Seiten aus dem Manuskript vollzählig gerettet waren, packte sie das gleichmütig gewordene Tier und verfrachtete es zurück in die Voliere. Dort begab sich der Papagei auf den obersten Ast seines Kletterbaums, um missmutig vor sich hin zu brummeln.
Die Voliere wiederzusehen, überhaupt das Wohnzimmer, das trotz der fremden Möbel Melanies Handschrift erkennen ließ, rief in Ingo schmerzhafte Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit wach.
Sie kam auf ihn zu, sichtlich erleichtert. »Du bist halt doch einer von den Guten«, sagte sie und streckte die Arme aus, als wolle sie ihn küssen.
Ingo trat einen Schritt zurück. »Mel«, bat er. »Nicht.«
»Ich bin so froh. Ehrlich.«
»Ist ja gut.« Alles in ihm schrie danach, es zuzulassen, der Gunst des Augenblicks nachzugeben, sehnte sich nach nichts mehr als nach einer Umarmung, und wenn es Melanies Arme waren, nun, warum nicht? Einzig sein Kopf beharrte darauf, dass er sich damit keinen Gefallen tun würde, dass er im Gegenteil endlich mit dieser Geschichte abschließen müsse.
Vielleicht wäre er am Ende doch noch schwach geworden, hätte sich nicht genau in diesem Moment ein Schlüssel deutlich hörbar im Haustürschloss gedreht.
Es war niemand anders als der Hausherr höchstpersönlich. Er kam herein, eine Aktenmappe in der einen Hand und den Autoschlüssel in der anderen, als sei er unschlüssig, ob er ihn einstecken oder nach jemandem werfen solle. »Ach, sieh an«, sagte er, als er Ingo erblickte.
Melanie hatte die Augen aufgerissen. »Du bist schon zurück?«
»Eine geradezu tautologische Frage.« Aus den Bewegungen, mit denen er seinen Mantel auszog, sprach Überdruss, als wäre ihm gerade alles lästig, insbesondere, womöglich gar höfliche Worte mit ihm, Ingo, wechseln zu müssen. »Ach, Melanie – falls du vorhaben solltest, wieder mit deinem Ex herumzumachen, sei so freundlich und sag mir rechtzeitig Bescheid, ja? Dann würde ich nämlich im Gegenzug einigen meiner Studentinnen entsprechende Aufmerksamkeit widmen.«
»Ich dachte, du hättest Sitzung bis –«
»Ja, ich auch.« Neci entschied sich, den Autoschlüssel einzustecken. Seine langen, vornehm ergrauten Haare, die er normalerweise straff gekämmt und hinter seinem kantigen Schädel zum Pferdeschwanz gebunden trug, wirkten ungewöhnlich zerwühlt. »Aber gewisse Institutsleiter hatten andere Prioritäten.«
»Ingo hat mir nur geholfen, Macho wieder einzufangen«, verteidigte sich Melanie hastig.
»So, so«, sagte der Professor mit unüberhörbarer Skepsis. Dann geruhte er den soziologischen Blick auf Ingo zu richten. »Macho. Ich habe mich immer gefragt, nach wem das Vieh eigentlich benannt ist.«
»Der Name stammt von der
Weitere Kostenlose Bücher