Todesengel: Roman (German Edition)
aufgelöst und irgendwie zornig, wobei Ingo nicht hätte sagen können, ob der Zorn ihm galt oder dem Papagei. Er kannte diese Stimmung bei ihr. Früher, wenn sie gestritten hatten, aus Anlässen, deren Streitwürdigkeit ihm meistens unverständlich blieb, war es so ähnlich gewesen. Da hatte oft dieselbe Spannung in der Luft gelegen.
Nur, dass sie sich damals manchmal in spontanem Sex gelöst hatte. Sex, der Melanie dann immer gar nicht hart genug sein konnte.
Ingo räusperte sich. »Okay. Wo ist er?«
»Hab ich doch gesagt«, fauchte sie. »Im Arbeitszimmer.«
Das Allerheiligste des Herrn Professor lag im Obergeschoss und nahm dessen gesamte nach Westen gerichtete Hälfte ein: ein kolossales Zimmer, dessen Decke bis unter das Dach hinauf erweitert worden war und sich dadurch wie ein großes, dunkles Zelt über dem Besucher erhob. Drei mächtige Regale mitten im Raum, vollgestopft mit Büchern und ungemein imposant. Vor der Fensterfront ein endloser Schreibtisch, von einer Seite des Hauses zur anderen, weiß lackiert und teuer wirkend. Ein wuchtiger Ledersessel direkt vor der bewussten Schreibmaschine, die gut und gerne fünfzig Jahre alt sein musste. Erstaunlich, dass es dafür noch Farbbänder gab.
»Eeengo!«, krakeelte es aus luftiger Höhe, kaum dass sie das Arbeitszimmer betreten hatten.
Ingo hob den Kopf. Unter dem Dach lagen mehrere Querbalken frei; auf einem davon vergnügte sich Macho, ein gutes Dutzend Manuskriptseiten fest in den Krallen.
Wenn Blicke töten könnten, wäre er im nächsten Moment leblos herabgestürzt, so, wie Melanie ihn ansah. »Hör dir dieses undankbare Viech an. Ich rotiere tagein, tagaus um ihn herum, und was macht er? Schreit Eeengo , sobald du auftauchst.« Sie funkelte Ingo an, und er meinte, durchaus so etwas wie Bewunderung in ihren Augen zu lesen. »Wie machst du das?«
»Keine Ahnung«, gestand er. »Ich kann ihn ja nicht mal leiden.«
»Okay.« Ein letzter mörderischer Blick in dunkle Höhen. »Ich geh dann mal und schau, ob ich im Internet ein Rezept für Papagei am Spieß finde.«
Sie schlug die Tür so wütend zu, dass es nachhallte.
Ingo hatte das Gefühl, dass eine Last von ihm abfiel. Er schaute sich um. Dies war das erste Mal, dass er das Arbeitszimmer von Melanies Neuem zu Gesicht bekam. Jede Wette, dass es Neci nicht recht gewesen wäre, hätte er es gewusst. Egal. Das war Melanies Problem, nicht seins. Ingo ging die Buchregale entlang, ließ die Finger über die teils ledernen, teils aus abgewetzter Pappe bestehenden Einbände gleiten. Er kannte praktisch keines der Bücher, die hier standen, kannte nicht einmal die Autoren ! Er war halt kein Professor, nur ein Journalist. Und bekanntlich waren Journalisten ungebildet und wussten bestenfalls, wo sie etwas nachschlagen konnten. O-Ton Markus Neci, der überdies der Auffassung war, die Journalisten aus Ingos Generation würden sich ohnehin ausschließlich in der Wikipedia bedienen.
Entlang der Wände, unter den Dachschrägen, standen kniehohe Kommoden, die entfernt japanisch anmuteten und allerlei seltsame Sammlungen präsentierten: metallene Tabaksdosen, Unmengen von Pfeifen, handgeschnitzte Pinguine in allen Größen und Varianten und anderen Krimskrams. Was halt so das Herz eines Soziologen erfreute. Ingo nahm, während er über sich Papier rascheln hörte, einen der Pinguine in die Hand und betrachtete ihn. Was war das für ein Material? Elfenbein womöglich? Würde sich ein Professor ein moralisch derart fragwürdiges Artefakt zulegen?
»Pinguine mag er offenbar«, erklärte er dem Papagei. »Und die sind ja zumindest entfernt mit dir verwandt. Ich glaube, du musst dir keine allzu großen Sorgen machen.«
Er stellte die Figur wieder hin, wanderte weiter. Ja, der Raum hatte unverkennbar die Atmosphäre eines Refugiums, fast eines Heiligtums. Und der Vogel da oben unter der zeltartigen Decke war eindeutig ein Störfaktor, wie er da hin und her trippelte, die Seiten aus dem Manuskript in den Krallen.
»Na, Macho?« Ingo streckte die Hand aus. »Was treibt dich denn um, du alter Gauner? Komm.«
Der Graupapagei ließ die Blätter fallen. Wie Herbstlaub kamen sie herabgesegelt, verteilten sich zwischen den Regalreihen. Ingo sammelte sie auf, strich sie wieder glatt und ordnete sie nach den Seitenzahlen. Alles noch lesbar, der Herr Professor würde sie einfach nur abschreiben müssen. Falls Melanie das nicht selber erledigte.
Er trug die Papiere zum Schreibtisch, überlegte, was er damit tun sollte.
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