Todesengel: Roman (German Edition)
Lieferwagen in die Igelstraße einbog, die in sanftem Bogen leicht bergauf führte. Der Fahrer warf einen raschen Blick auf das Klemmbrett mit der Liste, das neben ihm auf dem Beifahrersitz lag, und dann einen auf die Uhr im Armaturenbrett. Sieben Uhr dreißig stand neben dem nächsten Namen, es war aber schon fast acht. Verdammt.
Wobei … hier sollte es schnell gehen. Soweit er das verstanden hatte, war diese Kundin jedenfalls keine, die einen in lange Gespräche verwickelte. Vielleicht konnte er ein bisschen von der Verspätung aufholen.
Nummer 14. Da war es. Er hielt zwischen zweien der dünnen, jungen Bäume, die die Straße säumten, stieg aus, holte die grüne Plastikkiste mit dem Gemüse aus dem Laderaum. Victoria Thimm, Igelstraße 14 stand auf dem Ausdruck, der neben den beiden Salatköpfen und dem Lauch steckte. Korrekt.
Als er sich damit umdrehte und das Haus sah, durchzuckte ihn etwas wie ein Schmerz, ein Schmerz, der von seinem linken Schienbein ausging. Nein, die Erinnerung an einen Schmerz. Er blieb verwirrt stehen, dann fiel es ihm wieder ein: Als Kind war er einmal im Winter diese Straße heruntergerodelt, hatte nicht aufgepasst und sich hier, an diesem eisernen Schuhabstreifer, vor diesem Treppenaufgang, das linke Schienbein angeschlagen, und zwar so heftig, dass die Wunde bis auf den Knochen durchgegangen war und man die kreisförmige Narbe bis heute sah.
Das hatte er ganz vergessen gehabt. Wie sich der Körper so etwas merkte! Schon erstaunlich.
Die Verspätung fiel ihm wieder ein. Er setzte sich in Bewegung, stieg die fünf Stufen hinauf. An der Klingel stand der Name verkürzt zu V. Thimm . Er drückte den Knopf.
Die Sprechanlage knackte. »Ja?«, fragte eine dünne, weibliche Stimme.
»Guten Morgen, ich bringe Ihren Biokorb«, rief er. »Und das Abo für die nächsten vier Wochen wäre fällig.«
Einen Moment Stille. »Sie sind nicht Sebastian.«
»Nein«, gab der Fahrer zu. »Ich bin die Vertretung. Sebastian ist krank. Ich heiße Bernd.«
»Verstehe.« Es klang, als beunruhige sie das.
Ich hab die Frau noch nie gesehen , hatte Sebastian ihm erklärt. Ich kenne auch niemanden, der sie je gesehen hat. Angeblich verlässt sie das Haus niemals, lässt sich alles liefern.
»Ich werde jetzt die Tür öffnen«, verkündete die Stimme aus der Sprechanlage. »Bitte stellen Sie die Kiste an der Treppe ab und nehmen Sie die leere Kiste vom letzten Mal mit. In der liegt auch ein Briefumschlag mit dem Geld.«
Wie hatte Sebastian gesagt? Unsere treueste Kundin. Die Einzige, die jede Woche einen Korb nimmt. Kein Urlaub, keine Winterpause, nichts.
»Okay«, sagte er.
Der Türöffner summte. Er stieß die schwere, altmodische Tür auf. Dahinter ein Flur, seitlich eine helle Holztreppe, die in den ersten Stock führte. Auf dem untersten Absatz stand ein leerer Plastikkorb, auch der Briefumschlag war da.
Wenn sie das Haus nie verließ, wie kam sie dann an Bargeld?
Und wieso zahlte sie nicht einfach per Dauerauftrag?
Na ja. Konnte ihm egal sein. Er stellte den vollen Korb ab und schnappte sich den leeren. »Tschüss!«, rief er der Sprechanlage zu, doch es kam keine Antwort. Die Tür fiel krachend ins Schloss.
Zurück hinter dem Steuer, rieb er sich kurz das linke Schienbein, ohne sich dieser Bewegung bewusst zu werden. Dafür fiel ihm auf, dass auf der Liste neben der Adresse von Victoria Thimm stand: Beachten! Kundin wünscht keine Verwendung von Zeitungspapier!
Er runzelte die Stirn. Was manche Leute so für Marotten pflegten! Die Möhren waren in Zeitungspapier eingewickelt gewesen, wegen des Sandes, und die Kartoffeln auch. Das würde ja wohl nicht so tragisch sein, sagte er sich und fuhr weiter.
Je mehr Erich Sassbeck davon erzählte, was ihm widerfahren war, desto wilder schlug Ingos Herz. Was für eine Geschichte! Was für eine Vorstellung!
Und Sassbeck log nicht. Es sei denn, er wäre der beste Schauspieler gewesen, dem Ingo je begegnet war. Das, was er erzählte, hatte er so erlebt, ganz genau so.
Ein Engel. Ein Racheengel. Der nicht mit einem flammenden Schwert kam, sondern mit zwei Pistolen!
Zwischendurch musste Ingo durchatmen, sich bewusst machen, dass etwas in ihm nur zu bereit war, das, was er hörte, zu glauben, zu glauben in einem nahezu religiösen Sinn. Doch das durfte er nicht. Seine Pflicht war, skeptisch zu bleiben, Distanz zu wahren, den Dingen fragend auf den Grund zu gehen, nach inneren Widersprüchen, Unlogik und Schwachstellen zu fahnden.
Seine Pflicht als
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