Todesengel: Roman (German Edition)
die Gestalt wieder ab und verschwand so rasch, wie sie gekommen war.
Ulrich Blier wartete, den Blick auf das schmale Gittertor gerichtet. Ab und zu sah er zur Kaserne hinüber, betrachtete den Drahtzaun mit der Stacheldrahtkrone, die Scheinwerfer, die das Areal ausleuchteten, die endlosen Reihen dunkler Fenster. Da wie dort rührte sich nichts. Er sah auf die Uhr seines Handys. Inzwischen war Theo schon zehn Minuten überfällig.
Hätte er sich nicht so ausgepumpt, so völlig leergebrannt gefühlt, er hätte wahrscheinlich angefangen, sich Sorgen zu machen. Aber so blieb er einfach da im Schatten der krummen, kleinen Eiche stehen und wartete weiter.
Endlich tat sich etwas. Jemand kam aus dem Hintereingang von Block B. Kam raschen Schrittes den Pfad zum Gittertor herunter. Theo. Na also. Ulrich Blier löste sich aus dem Schutz des Baumes und ging ihm entgegen.
»Wie siehst du denn aus?«, begrüßte ihn der andere, während er das Tor aufschloss.
»Wieso? Wie seh ich aus?«
Theo deutete in Richtung seiner rechten Gesichtshälfte. »Da. Diese Kratzer. Das solltest du behandeln lassen.«
Blier berührte seine Wange, fühlte tatsächlich oberflächlich verschorfte Rillen. »Das ist nichts«, sagte er. »Hat nichts zu bedeuten.«
»Na, ich weiß nicht.« Er ließ ihn ein, schloss wieder zu. »Sorry übrigens für die Verspätung. Ich hatte vorhin das Gefühl, der OvD schleicht durch die Gegend.«
»Schon okay.« Blier nickte in Richtung des Feldlagers. »Komm. Höchste Zeit, dass ich Schlaf kriege.«
9
Ingo saß da, das kleine, überraschend leichte Smartphone in Händen, und hatte das Gefühl, sein Leben lang auf diesen Moment gewartet zu haben, ohne es zu ahnen.
»Dann ist es also wahr«, sagte er.
»Ja«, sagte die Frau.
»Es ist genau so passiert, wie Erich Sassbeck es erzählt hat.«
»Ganz genau so.«
Höflich wäre es gewesen, das Gerät zurückzugeben. Aber er brachte es nicht über sich. Dieses Video konnte alles verändern – sein eigenes Leben, die Welt, alles.
Er musste es haben!
Mehr noch: Diesen Beweis zu sehen, diesen eindeutigen Beleg, dass diese mythisch anmutende Gestalt tatsächlich existierte, dass es diesen strahlenden Engel des Todes wahrhaftig gab, erfüllte ihn mit, ja, Ehrfurcht. Mit der Gewissheit, an etwas ganz Großem teilzuhaben.
»Wo ist er hergekommen?«, fragte er und spürte sein Herz schlagen. »Und wohin ist er verschwunden?«
Irmina Shahid zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe um die Ecke gefilmt, ehrlich gesagt.« Sie nahm ihm das Smartphone mit einer raschen, federleichten Bewegung aus der Hand, hielt es zur Seite, das Objektiv nach hinten gerichtet, und sagte fast entschuldigend: »So etwa, verstehen Sie? Mit dem Rücken zur Mauer. Ich wollte nicht, dass die mich sehen. Und das Telefon allein, dachte ich, das fällt nicht auf.«
Ingo ließ das Gerät nicht aus den Augen, sah mit Sorge, wie unbekümmert sie damit hantierte. Er streckte die Hand aus. »Kann ich es noch einmal sehen, bitte?«
Sie reichte es ihm wieder. Er startete das Video von vorn, verfolgte das Geschehen mit einer Mischung von Aufregung und Grauen. Erst jetzt, beim zweiten Mal, fiel ihm auf, wie deutlich man die rabiaten Tritte der beiden Jugendlichen gegen den am Boden liegenden Mann hörte: dumpfe, schreckliche Geräusche, die ihm Gänsehaut verursachten.
Grauen. Und Verzückung. Erregung. Eine Riesenchance, und er hielt sie in Händen!
Er sah die Frau an, hob das Smartphone an. »Das ist ein wichtiges Beweismittel. Warum haben Sie das nicht der Polizei gegeben?«
Sie überlegte, als müsse sie aus einer enormen Zahl möglicher Antworten die passende auswählen. »Sagen wir so: Die Polizei hat sich in der Vergangenheit mir gegenüber nicht so verhalten, dass ich freiwillig mit ihr in Kontakt trete.«
»Was ist passiert?«
»Ach, so vieles …« Sie faltete die Hände vor dem Mund, schien sich für einen Moment in Erinnerungen zu verlieren. Dann blinzelte sie, richtete die gefalteten Hände auf ihn und sagte: »Unwichtig. Sie sind Journalist, Ihr Artikel hat mich berührt. Nehmen Sie das Video. Geben Sie es der Polizei, zeigen Sie es der Öffentlichkeit. Der Mann hat es nicht verdient, zu allem hin auch noch als Lügner bezeichnet zu werden.«
Also doch. Seine Chance. »Sie wollen mir das Video geben?«
»Unter einer Bedingung allerdings.«
»Nämlich?«
»Sie dürfen damit keine Stimmung gegen Ausländer machen.«
Ingo stutzte. »Wie meinen Sie das?«
»Wie meine
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