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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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mir nicht noch einmal passieren.«
    »Halt, halt«, rief Ingo hilflos. »Ich habe doch –«
    »Der Staatsanwalt hat beantragt, dass mein Schwiegervater auf seinen Geisteszustand hin untersucht werden soll«, fuhr sie fort. »Und der Richter hat es gerade genehmigt. Es wäre besser gewesen, Erich hätte zu niemandem auch nur ein Wort gesagt.«
    Ingo seufzte. »Das wollte ich nicht.«
    »Das glaube ich Ihnen sogar.« Eine unerträgliche Pause. »Aber davon hat er nichts. Guten Tag.« Sie legte auf.
    Ingo stand noch eine ganze Weile mit dem Hörer in der Hand da, fühlte sich wie gelähmt. Geräusche umfluteten ihn – Straßenlärm, ein Hubschrauber in der Ferne, Hupen, Musik, rumpelnde Schritte im Treppenhaus –, die ihm in diesem Augenblick wie ein sorgfältig komponierter Soundtrack vorkamen.
    Erinnerungen stiegen auf. Wie er auf dem Heimweg von der Schule ist, dem langen, einsamen. Wie plötzlich drei Jungs aus seiner Klasse vor ihm auftauchen. Er weiß ihre Namen noch, sie sind in seinem Gehirn eingraviert: Dietmar, Imre, Erik.
    Sie verprügeln ihn. Malträtieren ihn. Es ist ein Sommertag. Mohnblumen säumen den Weg, Vögel fliegen, es riecht nach Gras und Kühen. Überall sind Fliegen. Er versucht sich zu wehren, aber er hat keine Chance. Nicht gegen drei, und nicht als der Hänfling, der er ist.
    Ingo schüttelte die Erinnerung ab, legte den Hörer auf. Er verstand nur zu gut, wie es Erich Sassbeck jetzt zumute sein musste. Und er konnte es ihm nicht einmal sagen. Das schmerzte ihn mehr als der Umstand, dass die zarten, sowieso nur halb eingestandenen Hoffnungen, die er mit Evelyn verbunden hatte, dahin waren.
    Frau Bedow, die Küsterin, stand sichtlich aufgebracht am Kirchenportal, als Peter von seinen Gemeindebesuchen zurückkehrte. Also war etwas vorgefallen. Er war nicht überrascht, als sie ihm berichtete, dass jemand den Opferstock aufgebrochen hatte.
    »Am hellen Tag«, schimpfte sie. Sie war Mitte fünfzig, kleidete sich immer sorgfältig und nahm alles rings um die Kirche sehr ernst. »Dass die Leute sich nicht schämen!«
    »Ja«, meinte Peter resigniert. »Wir könnten eigentlich einen Korb hinstellen. Oder den Schlüssel danebenhängen. Das käme auf die Dauer billiger.«
    Sie besichtigten den Tatort. Der Dieb hatte ein banales Brecheisen verwendet, das beliebteste Werkzeug aller Kirchendiebe, wie es Peter schien. Vielleicht sollte er mit dem Schreiner, der das reparieren musste, mal über einen Mengenrabatt verhandeln.
    Anfangs hatte er jeweils noch die Polizei gerufen, obwohl die Küsterin ihm prophezeit hatte, dass das zu nichts führen würde. Inzwischen ließ er es. Es brachte nur Papierkrieg mit sich.
    Etwas Weißes am Boden fiel ihm auf, das halb unter die Kirchenbank gerutscht war. Er hob es auf. Es war ein Umschlag, in dem ein Zettel steckte, auf dem in kleinen, mit blauem Kugelschreiber geschriebenen Einzelbuchstaben stand: Bitte eine Messe lesen für Philipp Flach. 100 € anbei. Danke.
    Das Geld war natürlich nicht mehr da. Der Dieb hatte sich die Mühe gemacht, den Umschlag aufzuschlitzen und das Geld herauszunehmen. Wirklich ganz schön dreist.
    »Wer ist Philipp Flach?«, fragte Peter.
    »Einer von den Jungen, die der alte Mann erschossen hat«, erklärte Frau Bedow mit hörbarem Ingrimm. »Sie wissen schon – über den die Zeitungen jetzt ständig schreiben. Dieser ehemalige DDR-Grenzer.«
    Peter dachte an den unerwarteten Besuch im Beichtstuhl vor zwei Tagen zurück und überlegte, ob er ihre Sicht der Dinge korrigieren sollte. Aber wozu? Kam es denn darauf an, was er oder die Küsterin über den Fall wussten oder dachten?
    »Das war bestimmt die Mutter«, fuhr sie fort. »Das muss entsetzlich für sie sein. Sie wird ihrer Kinder schon lange nicht mehr Herr. Dominik – ihr Großer – ist noch schlimmer, ein richtiger Gewalttäter.«
    »Was ist mit dem Vater?«
    »Weiß ich nicht. Der soll Sachbearbeiter sein, heißt es. Aber ich hab ihn noch nie in der Kirche gesehen, nur sie ab und zu.« Sie machte eine unbestimmte Geste. »Die Familie wohnt in der Von-Metzler-Straße, soweit ich weiß.«
    Das wunderte Peter. Unwillkürlich hatte er erwartet, von Alkohol, Arbeitslosigkeit und verwahrlosten Zuständen zu hören. Aber die Von-Metzler-Straße war eine gutbürgerliche Wohngegend, eine der besseren Straßen in der Umgebung.
    »Haben Sie übrigens gesehen, was die Zeitungen jetzt schreiben, Herr Pfarrer?«, fragte die Küsterin. »Ein Engel soll eingegriffen und die beiden Jungen

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