Todesengel: Roman (German Edition)
erschossen haben. Ein Engel, der Leute erschießt! Wie kann jemand bloß auf die Idee kommen, so etwas zu behaupten? Ich versteh das nicht.«
Peter wog den Umschlag unschlüssig in der Hand. Er fühlte sich auf unbestimmte Weise gedrängt, etwas zu unternehmen, aber was denn? Und wieso er?
Das war ihm alles lästig. Er sehnte sich nach geordneten Bahnen, nach einem gleichmäßigen, geregelten Tagesablauf ohne ständige böse Überraschungen und Herausforderungen – mit einem Satz, er sehnte sich zurück ins Priesterseminar.
»Ich werde eine Messe lesen«, erklärte er hilflos und wusste immer noch nicht, was er mit dem Briefchen machen sollte. Schließlich steckte er es ein.
Irgendwann brach der Abend an, und es wurde dunkel, doch Ingo konnte sich nicht aufraffen, Licht zu machen. Wozu brauchte er Licht, wenn er nur dasaß und Löcher in die Luft starrte?
Das plötzliche Klingeln an der Tür überraschte ihn völlig. Er fuhr hoch, durchzuckt von der jähen Hoffnung, Evelyn sei gekommen, um sich für ihre harten Worte zu entschuldigen. Er sprang auf, stolperte auf dem Weg zum Lichtschalter über irgendetwas, rief: »Ich komme!«, erwischte den blöden Schalter endlich und daneben den Taster der Gegensprechanlage. »Hallo?«
Niemand antwortete.
Stattdessen klopfte es an der Tür. Ingo legte das Auge an den Spion: Es war nicht Evelyn, die davor stand – natürlich nicht! –, sondern eine kleine, alte Frau, die ihm vage bekannt vorkam. Als sei er ihr schon einmal begegnet, wenn er auch nicht wusste, wann und wo. Niemand aus dem Haus auf jeden Fall. Er öffnete.
»Guten Abend, Herr Praise«, sagte die Frau höflich, fast hoheitsvoll. »Entschuldigen Sie die späte Störung.«
»Kein Thema«, erwiderte Ingo, der sich erst jetzt zu wundern begann.
»Mein Name ist Irmina Shahid.« Sie mochte um die siebzig sein, trug einen schlichten Mantel und eine Handtasche und hatte graues, sorgfältig frisiertes Haar. Eine Perlenkette zierte ihren Hals. »Ich habe im gestrigen Abendblatt Ihren Artikel gelesen. Heute kam im Radio, dass die Polizei den armen Mann für einen Lügner hält oder sogar für geistesgestört. Ich würde gern …« Sie lächelte sanft. »Kann ich vielleicht hereinkommen?«
Ingo zuckte zusammen. »Oh. Ja, natürlich.« Er riss die Tür auf. »Entschuldigen Sie.«
Jetzt war er doch froh, aufgeräumt zu haben. Das Ding, über das er gestolpert war, war ein Pullover (ein Pullover ? Wo kam denn der her?), er hob ihn rasch auf und bot seiner Besucherin den Lesesessel an, den bequemsten Platz der Wohnung. Ob sie etwas trinken wolle? Sie schüttelte nur kurz den Kopf, als sei das in diesem Moment eine unangemessen profane Frage.
»Ich will gleich zum Grund meines Besuchs kommen«, erklärte sie, als Ingo sich auf die Couch setzte. »Ich war auf dem Bahnsteig gegenüber, als es passiert ist. Ich habe den Notruf ausgelöst und danach alles mit meinem Handy gefilmt.«
Ingo sah sie ungläubig an. Das träumte er jetzt nicht bloß, oder? »Sie waren auf dem Bahnsteig?«
»Gegenüber. Ich habe gesehen, wie sie den alten Mann brutal zusammengeschlagen haben. Und was dann passiert ist.«
»Und was ist dann passiert?«
Sie öffnete ihre Handtasche und holte ein Telefon heraus, ein modernes Smartphone, der letzte Schrei, noch keine zwei Monate auf dem Markt. Kein Gerät, das man bei einer vornehmen alten Dame vermutet hätte. So, wie sie damit hantierte, merkte man, dass sie sich total auskannte.
»Schauen Sie«, sagte sie und hielt ihm den Bildschirm hin.
Ingo rutschte bis vor an die Kante, beugte sich über das Video. Man sah den Bahnsteig der Station Dominikstraße: die kotzgelben Kacheln, das blau gestrichene Geländer der Treppe nach oben, die graffitiverschmierten Säulen. Davor zwei Jugendliche, die auf ein am Boden liegendes Etwas eintraten und dabei schrien. Man hörte ihre Schreie hallen, begriff mit Grauen, dass das Etwas am Boden ein Mann war, ein alter Mann in einem dunkelgrauen Anorak, auf den sie mit voller, wütender Wucht und ohne jedes Erbarmen eintraten.
Und dann, urplötzlich, kam ein Schemen hinter einer Säule hervor ins Bild, eine weiße, von innen heraus leuchtende Gestalt in einem schneeweißen, wallenden Mantel und mit langen, unwirklich weißen, wehenden Haaren. Sie trat hinter die Jugendlichen, hob die Hände mit zwei Pistolen darin und schoss. Etwas spritzte aus den Vorderseiten der Köpfe, die beiden Körper kippten vornüber. Noch ehe sie auf dem Boden aufschlugen, wandte sich
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