Todesengel: Roman (German Edition)
ich das? Wie kann man das denn meinen?« Sie zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ach, es war ein Fehler, herzukommen. Ich gerate bloß wieder in etwas hinein, und davon habe ich so genug. Geben Sie her.« Sie streckte die Hand nach ihrem Telefon aus. »Vergessen Sie, dass ich hier war.«
Ingo entzog ihr das Gerät. »Entschuldigen Sie, aber das vergesse ich ganz bestimmt nicht. Sie haben einen persönlichen Grund, diese Bedingung zu stellen, nicht wahr?«
»Ja.« Sie zog die ausgestreckte Hand zurück, musterte ihn forschend. »Ich habe Ihnen meinen Namen genannt. Shahid. Was glauben Sie, woher dieser Name kommt?«
»Arabisch, würde ich tippen.«
Sie nickte knapp. »Ich war mit einem Libyer verheiratet. Zweiunddreißig Jahre lang. Er hieß Mohammed Shahid. Er war die Liebe meines Lebens. Aber es war schwer, ein schweres Leben. Nicht seinetwegen! Der Leute wegen. Wir haben 1972 geheiratet. Das war eine andere Zeit, das können Sie sich gar nicht vorstellen, so jung, wie Sie sind. Was ich mir damals anhören musste! Ich werde es nicht wiederholen. Unglaublich infame Unterstellungen. Ich habe mit meiner Familie gebrochen, es ging nicht anders. Wir sind fortgezogen, hierher. In einer Großstadt ist man freier, das stimmt einfach, bei allen Nachteilen. Aber die Wohnungssuche war trotzdem ein Spießrutenlauf, furchtbar. Das war die Zeit, als man in allen Arabern Terroristen gesehen hat. München, die Olympischen Spiele, die Geiselnahme … Ich weiß nicht mehr, wie oft die Polizei meinen Mann angehalten und kontrolliert hat, verdächtigt, leibesvisitiert – wegen nichts und wieder nichts. Wie oft wir erlebt haben, dass wir in ein Restaurant gekommen sind und es hieß, alles sei reserviert, obwohl kaum jemand darin saß, einfach, weil sie ihn nicht haben wollten. Aber er hat das alles geschluckt, mir zuliebe, hat alles ertragen, hat immer gesagt: In Gaddafis Gefängnissen war es schlimmer. Er war ein guter Mann, liebevoll, fleißig, redlich, aufmerksam. Er konnte sehr gut fotografieren, hat es mir beigebracht. Und es hat ihn so glücklich gemacht, als wir ein Fotogeschäft übernehmen konnten, obwohl er von da an Tag und Nacht arbeiten musste –«
Das warf Ingo förmlich gegen die Rücklehne des Sofas. »Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne. Sie hatten das Fotogeschäft in Marienweiler, in der Berliner Allee, nicht wahr? Lehmanns?«
»Ja.«
»Als Schüler habe ich bei Ihnen Filme gekauft, Fotos entwickeln lassen«, erzählte er aufgewühlt.
»Wirklich?«, fragte sie verdutzt.
»Ja. Ich bin aufs Marienweiler Gymnasium gegangen. Aber ich bin aus Fechenau; da gab’s damals morgens einen Bus und mittags einen, und das war’s. Wenn wir eher aus hatten, musste ich entweder zu Fuß über die Felder heimlaufen oder die Stunde vertrödeln. Da hab ich mir oft die Nase an Ihrem Schaufenster mit den teuren Kameras platt gedrückt.«
Jetzt lächelte sie, wehmütig. »Ein paar davon habe ich noch im Keller. Heute will die niemand mehr. Aber für mich bleibt das das richtige Fotografieren: auf Film, mit Dunkelkammer.«
Immer weitere Details fielen Ingo ein. »Ich erinnere mich auch an Ihren Mann. Er war groß, nicht wahr? Mit schwarzen Locken. Hat etwas gehinkt.«
»Man hat ihn gefoltert, ehe er fliehen konnte. Aber er hat sich nie beklagt.«
Was für ein Gedanke! Dass er dieser Frau schon als Kind gegenübergestanden hatte, dass sie ihm die billigen Diafilme aus dem Regal geholt hatte, DDR-Produktion, weil er sich mehr von seinem Taschengeld nicht leisten konnte.
Und nun traf er sie wieder – und wieder hatte sie ihm einen Film ausgehändigt. Seltsam.
»So, wie Sie von Ihrem Mann sprechen, lebt er nicht mehr?«, fragte er.
»Ein Schlaganfall. Vor acht Jahren.«
»Das tut mir leid.« Und das tat es ihm tatsächlich. Er erinnerte sich an den Mann, an die buschigen Augenbrauen, die immer in Bewegung waren, an den gutturalen Tonfall, in dem er »un’ surück swanzig Fennige, dangeschön« gesagt hatte, wenn er an der Kasse herausgab.
Sie faltete die Hände im Schoß. »Es gibt viele Leute, denen jeder Anlass recht ist, die alte Leier wieder aufzulegen: Dass wir in Deutschland keine Probleme mehr hätten, wenn wir nur die Ausländer loswürden. Gott, wie oft ich das gehört habe! Als ob es bei uns keine Schläger gäbe, keine Neonazis und Skinheads, die Ausländer jagen und zu Tode prügeln. Das ist alles so dumm. Ob einer gewalttätig wird oder nicht, hat doch nichts mit seiner Nationalität zu tun, sondern mit
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