Todesengel: Roman (German Edition)
seinem Charakter.«
Ingo sah sie überrascht an. »Charakter«, wiederholte er nachdenklich. »Das ist ein Wort, das man heutzutage kaum noch benutzt.«
»Ja. Bedauerlicherweise.«
Das Wort hakte sich in ihm fest, fühlte sich an wie ein Magnet, der seine umherschwirrenden Gedanken ordnete. »Vielleicht ist das der Grund, warum sich alles so entwickelt«, überlegte Ingo. »Man möchte nicht daran erinnert werden, dass es wichtig ist, was für einen Charakter man hat. Sonst müsste man ja etwas tun. Konsequenzen ziehen.«
Sie nickte. Lächelte. »Versprechen Sie mir, dass Sie das nicht benutzen werden, um einfach alle Schuld den Ausländern zuzuschieben?«
»Ja«, sagte Ingo, und in diesem Moment war ihm ernst damit.
»Und verraten Sie niemandem, woher Sie das Video haben, bitte.« Sie riss erschrocken die Augen auf. »Oder sind Sie dazu verpflichtet? Kann man Sie dazu zwingen?«
Ingo räusperte sich. »Im Gegenteil. Als Journalist habe ich das Recht, meine Quellen zu schützen. Zeugnisverweigerungsrecht nennt man das.« Nannte man es wirklich so? Es war das erste Mal, dass er in eine Situation geriet, in der das wichtig werden konnte.
Sie merkte nichts von seiner Unsicherheit, schien erleichtert. »Gut.«
»Wir müssen nur …« Ingo sprang auf, eilte an seinen Schreibtisch und zog die Schublade mit den Hängeordnern auf. Er hatte irgendwann eine Mappe mit Ausdrucken aller Formverträge angelegt, die man beim Journalistenverband herunterladen konnte. Da er den Vertrag für eine Gelegenheit wie diese noch nie gebraucht hatte, musste er noch da sein.
Da. Er zupfte die Blätter aus dem Ordner, ließ die Schublade wieder zurattern, schnappte sich einen Kugelschreiber.
»Hier.« Er legte ihr den Vertrag hin. »Damit alles seine Richtigkeit hat.«
Sie beugte sich darüber. »Was ist das?«, fragte sie misstrauisch.
»Da Sie das Video gedreht haben, haben Sie ein Urheberrecht daran«, erklärte Ingo mit dem Gefühl, zu schnell zu sprechen. »Deswegen müssen Sie mir die Erlaubnis erteilen, das Video auszuwerten. Für den Fall, dass die Weiterlizenzierung des Videos Geld einbringt – also, damit sind nicht Artikel gemeint, die ich darüber schreibe, sondern die reine Wiedergabe des Videos im Fernsehen oder im Internet –, muss geregelt sein, wie das zwischen uns aufzuteilen ist.«
»Geld?«
»Ja.«
Sie sah entrüstet auf. »Ich will doch kein Geld verdienen am Unglück dieses Mannes! Wo denken Sie hin?«
Ingo sah sie ratlos an. »Ja, ich geb zu, das ist ein wenig … wie soll ich sagen …?« Das hatte er sich noch nie überlegt, aber genau genommen war es schon eine ziemlich perverse Angelegenheit. »So läuft das nun mal in dem Geschäft. Das Video ist eine Nachricht. Nachrichten werden verkauft. Und speziell dieses Video kann unter Umständen viel Geld einbringen –«
»Nein.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich will nichts davon.«
»Aber –«
»Sie kriegen das Video von mir. Machen Sie damit, was Sie wollen. Aber ich unterschreibe nichts. Ich will das Video los werden, zu dieser Tür hinausgehen und alles vergessen. Ich will nicht, dass mein Name irgendwo steht. Und ganz bestimmt will ich nichts von dem Geld, das Sie vielleicht damit verdienen.« Sie sah sich um, zögerte einen winzigen, aber spürbaren Moment lang. »Ehrlich gesagt glaube ich, Sie können es sowieso besser gebrauchen.«
Ingo spürte, dass er rot wurde. Er legte den Vertrag beiseite. »Na gut«, meinte er verlegen. »Wie Sie wollen.«
Er nahm das Smartphone, drehte es unschlüssig in Händen. Von diesem Modell hatte er nur gelesen; es war das erste Mal, dass er es vor sich sah. Es schien aus einem Guss zu sein, ohne eine einzige Anschlussmöglichkeit. »Sie wissen nicht zufällig, wie man das Video herunterkopiert?«
Irmina Shahid lächelte nachsichtig. »Doch, natürlich. Haben Sie ein Micro-USB-Kabel?«
»Ja, klar.«
»Dann holen Sie Ihren Computer.«
»Das ist ja der Hammer«, sagte Rado am nächsten Vormittag, nachdem das Video auf dem Bildschirm seines PCs abgelaufen war. Er klickte auf Wiederholen . »Der absolute Hammer.«
»Glaubst du’s jetzt?«, fragte Ingo. »Sassbeck hat die Wahrheit gesagt.«
»Eindeutig.« Rado hielt das Video an, als der Engel auftauchte, tippte auf den Schirm. »Der da. Wer ist das?«
»Liest du keine Comics? Ein Superheld natürlich.«
»Ein Superheld«, wiederholte Rado verzückt. »Klar. Was frag ich denn so dumm.« Jenseits der gläsernen Wände seines
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