Todesengel: Roman (German Edition)
ich mich auch ab und zu geprügelt, aber wenn einer am Boden gelegen hat, war es vorbei. Heute treten sie dann ja erst richtig zu.«
»Tja. Was weiß ich?«, meinte Ortheil fahrig. »Opfer einer kälter werdenden Gesellschaft, denke ich. Vernachlässigte Kinder, gewalttätige Eltern – das ganze Programm eben.« Das klang ziemlich oberflächlich angelesen und nicht so, als habe er sich über dieses Thema je tiefere Gedanken gemacht. »Klar, das ist schlimm, aber so etwas wie dieser weiße Rächer … also das geht ja mal gar nicht. Der ist durchgeknallt, keine Frage. Da kann die Devise nur lauten: Wehret den Anfängen! Wir müssen den Kerl kriegen und ein Exempel statuieren, sonst laufen solche Helden bald dutzendweise herum und ballern auf alles, was ihnen nicht gefällt.«
Das klang schon eher wie ein Thema, zu dem sich der Staatsanwalt in Rage reden konnte. Ambick sagte nichts dazu, beugte sich stattdessen über ein Standbild aus dem Video, das den Racheengel in Aktion zeigte, einen Sekundenbruchteil vor den beiden Schüssen. »Ich frage mich, wie er das macht. So zu leuchten, meine ich.«
Ortheil trat neben ihn, betrachtete das Foto ebenfalls.
»Das ist nicht einfach weiße Kleidung«, fuhr Ambick fort. »Das sieht aus, als hätte er eine Neonröhre an. Man kann sogar sehen, dass er einen Schatten wirft. Hier.« Er deutete auf eine am Boden liegende Bierflasche, in der sich die Gestalt des Unbekannten spiegelte und deren Schatten in eine ganz andere Richtung fiel als die Schatten der übrigen Gegenstände auf dem Bild.
Ortheil schwieg, wirkte zutiefst beunruhigt.
»Das ist trotzdem kein Engel«, sagte er schließlich und richtete sich auf. »Das garantiere ich Ihnen.«
Und wenn es doch einer wäre? Ambick behielt diesen Gedanken für sich.
Es war viel zu hell, viel zu spät, als Victoria Thimm erwachte. Sie war erst nach Mitternacht ins Bett gegangen, hatte zu lange geschlafen und schlecht dazu, und ihr war übel von wilden, grausamen Träumen.
Sie setzte sich auf, griff nach dem obersten der Bücher, die den Nachttisch belagerten, schlug beim Lesezeichen auf. Es war ein Lehrbuch des Isländischen. Eine neue Sprache zu lernen hatte sich in der Vergangenheit immer als wirksamster Notanker erwiesen, wenn ihre Gefühle sie überwältigten.
Nicht, weil es ihr leichtfiel, fremde Sprachen zu lernen; im Gegenteil, es fiel ihr schwer. Gerade deswegen funktionierte es: Weil sie ihre gesamte Konzentration, ihre ganze geistige Kraft daran verwenden musste und auf diese Weise keine Kapazität übrig blieb, um sich Sorgen zu machen oder zu ängstigen.
Doch heute funktionierte es nicht. Sie legte das Buch beiseite, zog die Beine an, umschlang sie mit den Armen, presste ihre Stirn auf die Knie. Was sollte sie nur tun?
Funktionieren. Weitermachen. Wie sie es immer getan hatte. Sie stieg aus dem Bett und schaltete den Zimmerspringbrunnen aus, der nachts lief, um Geräusche von draußen zu übermurmeln. Wie laut es wurde, sobald das freundliche Plätschern verstummte! Und wie hässlich all das war, was hereindrang – das Brummen, Scheppern, Dröhnen des Verkehrs, fernes Geschrei, das metallische Kreischen der Straßenbahn, wenn sie um die Kurve bog.
Sie schob den Vorhang beiseite, ließ Tageslicht herein. Hochdramatisch aussehende Wolken füllten den Himmel, als sei dieser genauso beunruhigt.
Das Video. Es ging ihr wieder und wieder durch den Kopf, lief in Endlosschleife vor ihrem inneren Auge. Gestern Abend hatte sie geglaubt, die Art, wie sich der strahlende Unbekannte bewegte, wiederzuerkennen und auch seine Gestalt, aber inzwischen war sie sich nicht mehr sicher. Außerdem konnte es nicht sein. Schlicht und einfach.
Doch sie musste etwas tun, irgendwas, um nicht auf all dem sitzen zu bleiben, nicht an ihren Gedanken und Gefühlen zu ersticken. Bloß was? Sie wusste es nicht.
Sie öffnete dem Lärm der Stadt das Fenster, erzitterte unter der hereindringenden Kälte. Aber die Luft, die hereinkam und nach Abgasen roch, belebte sie, machte ihr ihre Benommenheit bewusst.
Sie blieb stehen, atmete tief und langsam ein und aus und blickte dabei auf die Hausdächer jenseits ihres Gartens hinab. Vor Jahren hatten sich ein paar der Nachbarn beschwert, ihre Bäume wüchsen zu hoch, nähmen ihnen das Licht. Sie hatten verlangt, sie zu kappen. Victoria hatte gegen diese Forderungen hartnäckig prozessiert, hatte viel Geld dafür ausgegeben und es so lange hingezogen, bis die Nachbarn aufgegeben hatten, weil es ihnen am
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