Todesengel
hatte John Tarlow für tot erklärt.
»Wir konnten wirklich nichts mehr für den Mann tun«, sagte der Arzt. »Seine Lunge war vollkommen verschleimt, die Nieren haben versagt, und er hatte keinen meßbaren Blutdruck mehr.«
David nickte geistesabwesend und starrte auf den toten John Tarlow, während eine Schwester sämtliche Kabel und Schläuche entfernte. Er ging zum Schwesternzimmer hinüber und setzte sich an den Schreibtisch. Er fragte sich allmählich, ob er für den Beruf des Arztes überhaupt geeignet war. Denn das, was er gerade erlebt hatte, war zwar ein Teil seines Jobs, doch je häufiger er mit derart frustrierenden Fällen konfrontiert wurde, desto schwerer fiel es ihm, damit umzugehen.
Irgendwann trafen die Verwandten von John Tarlow ein, und sie erwiesen sich als genauso verständnisvoll und dankbar wie die Familie von Marjorie Kleber. Während David sich die freundlichen Worte der Trauernden anhörte, kam er sich wie ein Versager vor. Er hatte nichts tun können, um seinem Patienten zu helfen. Er wußte nicht einmal, woran John tatsächlich gestorben war. Daß die Leukämie ihn hingerafft hatte, konnte er nicht so richtig glauben.
Obwohl David inzwischen wußte, daß das Krankenhaus normalerweise keine Autopsien durchführte, fragte David die Familie von John Tarlow, ob sie einer Untersuchung des Leichnams zustimmen würde. Die Familie versprach, darüber nachzudenken. Bevor David die Intensivstation verließ, schaute er noch bei Mary Ann Schiller und bei Jonathan Eakins vorbei. Zu seinem Unbehagen mußte David feststellen, daß Mary Ann auf Zimmer 206 verlegt worden war - das war genau der Raum, den John Tarlow gerade freigemacht hatte. Das stimmte David ziemlich nachdenklich, und für einen Moment lang überlegte er, ob er Mary Ann nicht besser in ein anderes Zimmer bringen lassen sollte, doch dann gestand er sich ein, daß er jetzt wohl auch noch abergläubisch geworden war. Was sollte er den Mitarbeitern in der Aufnahme sagen? Daß von seinen Patienten keiner mehr auf Zimmer 206 gelegt werden sollte? Die würden ihn doch auslachen!
David überprüfte, was seiner Patientin gerade über die Venenkanüle verabreicht wurde und stellte zufrieden fest, daß sie die Antibiotika bekam, die er verordnet hatte. Nachdem er ihr versprochen hatte, später noch einmal zurückzukommen, ging David in das Zimmer von Jonathan. Dieser fühlte sich ebenfalls wohl, und er hatte sich sogar schon ein wenig erholt. Neben seinem Bett stand ein Herzmonitor, und Jonathan sagte, daß der Kardiologe jeden Moment eintreffen sollte.
Als David in seine Praxis zurückkehrte, empfing Susan ihn mit der Nachricht, daß Charles Kelley angerufen habe. »Er will Sie sofort sprechen«, sagte sie. »Seine Betonung lag auf sofort.«
»Ist das Wartezimmer voll?« fragte David. »Ziemlich«, erwiderte Susan. »Am besten versuchen Sie, es kurz zu machen.«
Während David widerwillig zu dem Büro der CMV hinüberging, hatte er das Gefühl, als trüge er die ganze Last der Welt auf seinen Schultern. Er konnte sich denken, warum Kelley schon wieder mit ihm reden wollte. »Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll«, sagte Kelley, nachdem David Platz genommen hatte. Kelley schüttelte den Kopf. David konnte nur darüber staunen, wie perfekt Kelley sein Rollenspiel beherrschte. Jetzt war er auf einmal der verletzte Freund.
»Ich habe mich wirklich bemüht, vernünftig mit Ihnen zu reden. Aber entweder sind Sie total stur, oder die Probleme der CMV sind Ihnen völlig gleich. Es ist jetzt genau ein Tag vergangen, seitdem ich Ihnen nahegelegt habe, möglichst keine Fachärzte zu Rate zu ziehen, die nicht für die CMV arbeiten. Und was tun Sie? Sie scheren sich einen feuchten Kehricht um meine Anweisung und holen schon wieder teuren Rat bei anderen Ärzten ein, obwohl Ihr Patient sowieso nicht mehr zu retten war. Was soll ich bloß mit Ihnen tun? Begreifen Sie denn nicht, daß die Kosten für die medizinische Versorgung in einem gewissen Rahmen gehalten werden müssen? Sie haben doch sicherlich auch schon davon gehört, daß dieses Land in einer Krise steckt, oder?«
David nickte. Zumindest mit seinen letzten Worten hatte Kelley recht.
»Warum ist das nur so schwer für Sie zu begreifen?« fragte Kelley. Er hatte sich jetzt in Rage geredet. »Und diesmal ist nicht nur die CMV auf Sie sauer, sondern auch noch das Krankenhaus. Vor ein paar Minuten hat mich Helen Beaton angerufen und sich darüber beschwert, daß Sie diesem armen,
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