Todesengel
zugrunde: Die Kobaltquelle hat eine Größe von ungefähr zehn Zentimetern. Das hat zur Folge, daß die Gammastrahlen in alle Richtungen entweichen und weder eine optimale Bündelung noch eine zielgenaue Einstellung möglich ist.«
»Ich verstehe«, sagte David, obwohl das nicht ganz stimmte. Physik war noch nie seine Stärke gewesen. »Dieser Linearbeschleuniger ist der Kobalt-Anlage weit überlegen. In dem Gerät befindet sich eine sehr kleine Öffnung, durch die die Gammastrahlen gebündelt und zielgenau eingesetzt werden können. Außerdem kann man die Tiefendosis exakt einstellen. Ein weiterer Nachteil der Kobalt-60-Anlage liegt darin, daß die Strahlungsquelle alle fünf Jahre ersetzt werden muß, weil die Halbwertzeit von Kobalt 60 nur bei etwa sechs Jahren liegt.« David bemühte sich, ein Gähnen zu unterdrücken. Seine Zusammenkunft mit Dr. Holster erinnerte ihn immer mehr an eine Vorlesung in der medizinischen Hochschule. »Die alte Kobalt-Anlage ist jetzt im Keller. Die Verwaltung hat sich bemüht, das Gerät an ein Krankenhaus in Paraguay oder in Uruguay zu verkaufen. Das machen die meisten Kliniken, wenn sie sich einen modernen Linearbeschleuniger anschaffen: sie verhökern die alte Anlage in ein Entwicklungsland. Die Geräte sind ja auch noch vollkommen in Ordnung. Und die alten Kobalt-Anlagen haben sogar den Vorteil, daß sie fast nie kaputtgehen. Die Kobaltquelle sendet rund um die Uhr Gammastrahlen aus; sie ist robust und kaum kleinzukriegen.«
»Ich glaube, ich habe Sie jetzt lange genug aufgehalten«, sagte David. Er hoffte, das Gespräch damit beenden zu können.
»Dr. Hodges war ziemlich interessiert, als ich ihm die Funktionsweise der verschiedenen Strahlentherapie-Anlagen erklärt habe«, fuhr Dr. Holster unbeirrt fort. »Als ich ihm von dem Vorteil erzählt habe, den die alten Geräte gegenüber den neuen Anlagen haben, huschte auf einmal ein Leuchten über sein Gesicht. Er wollte sich sogar die alte Kobalt-Anlage ansehen. Wie steht es mit Ihnen? Möchten Sie sie auch sehen? Ich zeige Ihnen das alte Gerät gerne.«
»Ich glaube, da muß ich leider passen«, erwiderte David. Er fragte sich, wie Helen Beaton und Joe Forbs wohl reagieren würden, wenn er so kurz nach seinem Rausschmiß schon wieder im Krankenhaus aufkreuzen würde. Ein paar Minuten später überquerte David mit dem Fahrrad den Roaring River und radelte nach Hause. Er hatte an diesem Morgen zwar nicht alles erledigt, was er sich vorgenommen hatte, doch immerhin hatte er die Geburtsdaten und Sozialversicherungsnummern der verdächtigen Personen.
Calhoun hatte an diesem Morgen etwas länger geschlafen und war erst kurz vor Mittag nach Bartlet aufgebrochen. Während er sich dem Ortszentrum näherte, beschloß er, sich die tätowierten Krankenhausangestellten in alphabetischer Reihenfolge vorzuknöpfen. Somit mußte er zuerst Clyde Devonshire einen Besuch abstatten. Calhoun parkte sein Auto vor dem alten Speisewagen an der Main Street. Während er im Stehen einen Kaffee trank, suchte er sich die fünf Adressen aus dem Telefonbuch heraus und fuhr dann los, um Clyde zu besuchen.
Devonshire wohnte über einem Tabakwarenladen. Calhoun ging die Treppe hinauf und klingelte. Als niemand öffnete, klingelte er noch einmal.
Da er nicht noch ein drittes Mal auf die Klingel drücken wollte, stieg Calhoun die Treppe wieder hinunter und betrat den Tabakladen, wo er sich eine Packung Antonio-y-Cleopatra kaufte.
»Ich wollte eigentlich Clyde Devonshire besuchen«, erzählte er dem Verkäufer.
»Der ist heute schon ziemlich früh aus dem Haus gegangen«, erwiderte er. »Wahrscheinlich mußte er zur Arbeit - er hat nämlich oft Wochenenddienst. Clyde arbeitet im Krankenhaus; er ist Pfleger.«
»Wann kommt er denn normalerweise zurück?« fragte Calhoun.
»Er kommt immer so gegen halb vier oder vier nach Hause, es sei denn, er hat Nachtschicht.« Calhoun ging noch einmal die Treppe hinauf und klingelte. Als sich wieder nichts tat, drückte Calhoun die Klinke herunter. Er hatte Glück; die Tür war nicht verschlossen. »Hallo!« rief Calhoun.
Da er nicht mehr für die Polizei ermittelte, mußte er es nicht so genau nehmen, ob eigentlich ein ausreichender Tatverdacht vorlag, um eine Hausdurchsuchung vornehmen zu dürfen - und das war im Moment sicherlich von Vorteil. Ohne sich auch nur im geringsten schuldig zu fühlen, betrat Calhoun die Wohnung und schloß die Tür hinter sich ab.
Das Apartment war mit billigen Möbeln eingerichtet,
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