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Todesfalter

Todesfalter

Titel: Todesfalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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instinktiven Suche nach einem Halt, stöhnte die Menge auf und warf sich in einem Impuls nach vorne. Die Wachen hatten damit schon gerechnet. Mit ihren langen Spießen verwehrten sie den Vordersten jeden weiteren Schritt und fingen die Woge der Leiber ab. Nach und nach wurde es ruhiger, doch die Blicke blieben wie hypnotisiert an der mit dem Tode ringenden Gestalt hängen, durch deren Körper letzte Krämpfe gingen, während sie sacht hin und her baumelte. Noch einmal zuckte ein Fuß, ein Schuh fiel herab. Urin lief das Bein hinab, tropfte von den Zehen und fiel zu Boden.
    Da entdeckte Maria Sibylla ihre Schülerin. Sie war zwischen den Wächtern hindurchgeschlüpft, hob den Schuh auf und schob ihn der Sterbenden wieder über den Fuß. Gebannt schaute sie zu der Hebamme auf. Sie schien etwas zu ihr zu sagen.
    Maria Sibylla konnte nicht verstehen, was es war. »Magdalena!« Mit aller Kraft kämpfte sie sich durch die Menge, um bei ihr zu sein, noch ehe die Wachen sie überwältigt oder gar abgeführt hätten. Nicht auszudenken, wenn das Mädchen ins Gefängnis kam. »Magdalena! Ich bin hier!«
    Ihre Schülerin wehrte die Hände der Männer ab, die sie von der Leiche – denn eine Leiche war es nun, die dort oben hing – wegziehen wollten. Sie gönnte ihnen nicht einen Blick. Ihr Kopf war in den Nacken gelegt, sie hatte nur Augen für die Tote. Maria wusste, was sie dort suchte: ein Lächeln des Einverständnisses, des Dankes – ein Band, das ins Totenreich hinüberführte bis hin zu Magdalenas Vater. Das Gesicht des Mädchens, stur der Gebhardin zugewandt, strahlte vor Hoffnung.
    Als die Wachen sie fortziehen wollten, schrie Magdalena auf. Sie trat um sich und wehrte sich mit allen Kräften. »Nein, nein, nein!« Ehe sich’s jemand versah, biss sie den Henkersknecht in die Hand. Der brüllte auf und ballte die Faust.
    »Nicht! Ich bin …« – ihre Lehrerin, wollte Maria rufen. Doch jemand anderes kam ihr zuvor.

34
    Auf einmal stand Heuchlin neben dem Mädchen.
    Starr vor Schreck beobachtete Maria Sibylla, wie der Diakon mit den Wachen verhandelte und sie mit der Autorität seines geistlichen Gewandes offenbar davon überzeugte, die Verwirrte ihm zu überlassen, da sie einer seiner Schützlinge sei.
    »Moment«, rief Maria, »ich …« Aber es ging in der aufgeregten Menge unter, in deren wogender Mitte sie hin und her geschoben wurde. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Magdalena freigegeben wurde, wie der Diakon sie umarmte und eiligst zwischen all den Neugierigen hindurchzog. Die beiden kamen so nahe an Maria vorbei, dass sie sie beinahe hätte berühren können. Sie streckte die Hand aus, erreichte sie aber nicht, weil ein dicker Bauer sich dazwischenzwängte. Dann war der Moment vorüber. Magdalena war fort.
    Immer drängender wurden um Maria herum Forderungen laut, man solle die Zehen der Toten zählen, man solle nach Wunden sehen, um sicherzugehen, dass die Verrückte der Hebamme nichts abgeschnitten hatte, um damit bösen Zauber zu treiben. »Das war eine Hexe.« – »Eine Zauberin!«
    »Nein«, rief Maria aus, »nein, das ist nicht wahr. Sie ist krank. Einfach nur ein krankes Mädchen!« Aber niemand wollte etwas davon wissen. Vergeblich schrie sie und ruderte mit den Armen. Am Ende packte eine Wache sie am Arm und zischte ihr zu, sie solle »sich schleichen und dankbar sein«. Einige Augenpaare wandten sich ihr fragend zu. Mit einem Mal erfasste Angst Maria. Und sie floh.
    Immerhin schien keiner der Krakeeler die Tochter des verstorbenen Verlegers Fürst erkannt zu haben. Sie musste der Familie Bescheid geben. Magdalena brauchte dringend einen Arzt, am besten einen von jenseits der Stadtgrenzen. Sie könnte ja vielleicht eine Weile zu Verwandten aufs Land ziehen, bis niemand sich mehr so genau an den Vorfall heute erinnerte. All das musste sie der Mutter sagen. Es konnte noch alles gut werden.
    Mit diesem schwachen Trost bahnte Maria sich ihren Weg durch die Menschenmassen, die nach wie vor aus dem Tor strömten, um wenigstens die Tote noch hängen zu sehen. Sie war zerzaust und am Ende ihrer Kräfte. Ihr war, als hätte sie sich eben erst durch ein Unwetter gekämpft. Oder wäre auf hoher See ausgesetzt gewesen. Sie würde noch mehr als ein Mal hiervon träumen: von der wütenden Menge, von der Wut und der Lust, mit der sie nach Blut und Schuld und Hexen gerufen hatte. Und sie würde ihr eigenes Gesicht dabei sehen.

35
    Es dauerte lange, bis Maria endlich beim Haus der Familie Fürst ankam.

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