Todesfee
schlichten Qualität wie die anderen Habseligkeiten der jungen Frau. Langes Haar wurde in Irland sehr bewundert, und daher war es unerlässlich, dass alle Männer und Frauen stets einen Kamm bei sich trugen. Zu ihrer großen Überraschung fand Fidelma im
marsupium
auch noch ein halbes Dutzend Münzen. Sie waren von keinem besonderen Wert, und so konnte man Raub als Mordmotiv ausschließen, selbst wenn Fidelma diesen Verdacht gehegt hätte. Das hatte sie jedoch nicht.
Je länger Fidelma den Leichnam und seine Lage betrachtete, desto klarer wurde ihr, dass bei diesem Fall irgendetwas sehr seltsam war. Viel seltsamer noch als die an sich schon schreckliche |56| Tatsache eines gewaltsamen Todes. Aber was es war, konnte sie nicht genau sagen. Auf dem Gesicht der Leiche schien ein Lächeln zu liegen. Aber das war es nicht, was Fidelma nachdenklich stimmte.
Als sie wieder aus der Kapelle trat, schritten gerade drei ältere Ordensleute durch das niedrige Tor auf das Gelände der Kapelle. Fidelma erkannte sogleich die bleichen, besorgten Züge von Rian, dem Abt von Ardmore. Er wurde begleitet von einer hochaufgeschossenen Frau mit grimmiger Miene und einem mondgesichtigen Mann, der verwundert wirkte und der Verwalter des Klosters war, wie Fidelma wusste. Wie hieß er doch gleich? Bruder Echen.
»Es stimmt also, liebe Fidelma?«, fragte der Abt. Er war ein entfernter Verwandter und grüßte sie in vertrautem Ton.
»Allerdings, leider, Rian«, antwortete sie.
»Ich wusste, dass es früher oder später so kommen musste«, blaffte die große Nonne neben ihm.
Fidelma schaute sie fragend an.
»Das ist Schwester Corb«, erklärte Abt Rian nervös. »Sie ist die Novizenmeisterin unserer Ordensgemeinschaft. Schwester Aróc war eine der ihr anvertrauten Novizinnen.«
»Vielleicht wärst du so freundlich, mir deine Bemerkung näher zu erläutern?«, bat Fidelma sie.
Schwester Corb hatte ein langes, hageres und kantiges Gesicht. Sie schien immer missmutig zu schauen.
»Da braucht es nicht viel Erklärung. Das Mädchen war besonders.«
»Besonders?«
»Verrückt.«
»Und wie hat sich dies geäußert und wieso soll es zu ihrem Tod geführt haben?«
Der Abt mischte sich besorgt ein.
|57| »Weißt du, Fidelma, man sagt, die junge Frau, Schwester Aróc, hat sich von den meisten anderen in der Ordensgemeinschaft abgesondert. Ihr Verhalten war … absonderlich.«
Der Abt hatte lange gezögert, ehe er das richtige Wort fand.
Fidelma unterdrückte mit Mühe einen ungeduldigen Seufzer.
»Das verstehe ich nicht so ganz. Sagst du, dass das Mädchen schwachsinnig war? War ihr Verhalten ungezügelt? Wieso ist sie dir denn als so anders vorgekommen, dass dies unweigerlich zu ihrem Tod führen musste?«
»Schwester Aróc war eine religiöse Fanatikerin«, meldete sich zum ersten Mal Bruder Echen, der mondgesichtige Verwalter der Abtei, zu Wort. »Sie behauptete, Stimmen zu hören. Sie sagte, es wären …« Er kniff die Augen zusammen und beugte die Knie. »Es wären die Stimmen der Heiligen.«
Schwester Corb schniefte missbilligend.
»Sie hat es als Vorwand benutzt, um die Regeln unserer Gemeinschaft zu missachten. Sie behauptete, eine unmittelbare Verbindung zur Seele des heiligen Declan zu haben. Ich hätte sie für Gotteslästerung auspeitschen lassen, aber Abt Rian ist ein äußerst menschenfreundlicher Mann.«
Fidelma war nicht entgangen, dass Missbilligung in der Stimme der Ordensschwester mitschwang.
»Wenn die junge Frau, wie du sagtest, anders war, nicht die gleichen geistigen Fähigkeiten hatte wie alle anderen, was hätte dann das Auspeitschen bewirken können?«, fragte sie trocken. »Ich begreife immer noch nicht, wieso ihr Verhalten zu ihrem Tod geführt haben soll … früher oder später, wie du es formuliert hast, nicht wahr, Schwester Corb?«
Schwester Corb wirkte befremdet.
»Ich wollte damit sagen, dass Schwester Aróc nicht von |58| dieser Welt war. Naiv war, wenn du so willst. Sie wusste nicht, wie … wie lüstern Männer sein können.«
Der Abt schien einen Hustenanfall zu haben. Bruder Echen musterte interessiert seine Fußspitzen.
Fidelma starrte die Frau unverwandt an. Sie zog ihre Augenbrauen fragend in die Höhe.
»Ich meine … ich meine, dass Aróc nicht wusste, wie es auf der Welt zugeht. Sie genoss sehr freizügig die Gesellschaft von Männern, ohne zu begreifen, was Männer von einer jungen Frau erwarten.«
Der Abt hatte seine Fassung wiedererlangt.
»Leider besaß Schwester Aróc nicht
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