Todesfee
war es, die sie zu hören meinte.«
»Hat sie dir verraten, was diese Stimme ihr gesagt hat?«
Bruder Ross überdachte diese Frage.
»Aróc glaubte, der Heilige hätte sie ausgewählt, seine Dienerin zu sein.«
»Wie hat sie dir das mitgeteilt?«
Bruder Ross verzog das Gesicht.
»Ich glaube, sie wusste nicht einmal, worüber sie sprach. Sie meinte, man sagte ihr, sie solle dem Willen eines Heiligen folgen, der seit zwei Jahrhunderten tot ist.«
»Und was war dieser Wille?«
»Ein Leben im Zölibat und in Dienstbarkeit«, erwiderte Bruder Ross. »Zumindest hat sie das so ausgedrückt.«
»Du sagst, sie ist gern in die Kapelle gekommen, um dem heiligen Declan nah zu sein. Hast du Aróc geholfen, die Deckplatte des Sarkophags wegzuschieben und die Kante mit Talg zu beschmieren, damit sie ihn nach Belieben öffnen und schließen konnte?«
Bruder Ross schaute verdutzt auf und begegnete Fidelmas kühlem Blick.
Fidelma fuhr rasch fort: »Frag mich nicht, woher ich das weiß. Es ist nicht zu übersehen. Ich nehme an, dass du ihr geholfen hast, weil sonst niemand da war, der es hätte tun können.«
»Es war kein Frevel. Sie wollte nur die Gebeine des heiligen Declan sehen, um eine unmittelbare Verbindung zu ihm zu bekommen.«
|65| »Wusstest du, dass Schwester Aróc heute Morgen hier sein würde?«
Bruder Ross schüttelte rasch den Kopf.
»Ich hatte ihr gesagt, dass heute Pilger kommen würden, um sich die Kapelle anzuschauen – da es doch der Festtag des Heiligen ist.«
»Aróc hatte wohl einen starken Willen. Vielleicht war ihr das gleichgültig. Denn heute war doch auch für sie ein besonderer Tag, der Festtag des heiligen Declan, der Tag, an dem er aus dem Leben schied. Da wollte sicher auch sie gern herkommen.«
»Wirklich, das habe ich nicht gewusst.«
»Eines finde ich seltsam. Du kanntest sie doch so gut, du wusstest sogar, dass sie das Grab zu öffnen und auf den Heiligen herabzuschauen pflegte. Warum bist du aus der Kapelle gestürzt und hast geschrien, der Leichnam des Heiligen sei unverwest? Du musstest schließlich wissen, wie die sterblichen Überreste des Heiligen aussehen. Und du musstest auch wissen, wie Aróc aussieht. Es musste dir doch klar sein …«
»Ich habe dir bereits erzählt, dass es in der Kapelle dunkel war. Ich habe wirklich gemeint …«
»Wirklich?« Fidelma lächelte sarkastisch. »Du hast keine Sekunde lang eine andere Möglichkeit erwogen, als herauszurennen und zu verkünden, dass die staubigen Überreste des heiligen Declan plötzlich wieder zu unverwestem Fleisch geworden waren?«
Bruder Ross schaute sie widerstrebend an.
»Ich habe dir alles erzählt, was ich in dieser Angelegenheit weiß.« Er verschränkte trotzig die Arme.
Fidelmas presste die Lippen strichdünn zusammen und schaute ihn ungewöhnlich lange an. Besonders aufmerksam betrachtete sie den vorderen Teil seiner Kutte.
|66| »Hast du einen Verdacht, wer Schwester Aróc getötet haben könnte?«, fragte sie ihn schließlich.
»Ich weiß nur, dass sie eines gewaltsamen Todes gestorben ist, obwohl es keinerlei Grund gab, warum ihr Leben so enden sollte«, antwortete er streitlustig.
Fidelma wandte sich von ihm ab und schaute zu dem äußerst aufgeregten Abt Rian.
»Ich bin sehr bestürzt, Fidelma«, sagte Rian. »Ich bin der Vorstand meiner Gemeinschaft, der Hirte meiner kleinen Herde. Wenn hier unter der Oberfläche Gewalttätigkeit gelauert hätte, so hätte ich es spüren müssen.«
»Du bist nur ein Mensch und kein Prophet, Rian«, mahnte ihn Fidelma. »Du brauchst die Verantwortung dafür nicht auf deine Schultern zu laden.«
»Wie kann ich dir helfen, diesen Fall zu lösen?«
»Indem du mir einige Fragen beantwortest. Kanntest du Schwester Aróc?«
»Ich bin der Abt«, antwortete er tiefernst.
»Ich meinte, kanntest du sie persönlich und nicht nur als ein Schaf aus deiner Herde?«
Der Abt schüttelte den Kopf.
»Vor sechs Monaten hat Schwester Corb Aróc zu mir gebracht. Sie wollte sie in die Novizenschule aufnehmen. Aróc hatte das Alter der Wahl erreicht. Es schien mir, dass sie ein frommes Mädchen war, wenn auch nicht allzu gescheit. Außer der einen Unterredung mit ihr habe ich sie nur aus der Ferne gesehen.«
Er hielt inne und warf einen raschen Blick über das Kapellengelände zu Schwester Corb, ehe er fortfuhr: »Vor einigen Tagen kam Schwester Corb zu mir, um eine offizielle Beschwerde einzulegen. Erst da habe ich von Arócs seltsamem Verhalten gehört. Schwester Corb hat es
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