Todesfee
sie tot dort gefunden. Aber die Beweise sprechen dagegen. Hätte er sie erstochen, so wäre Blut auf seine Kutte gespritzt.
Es ist offensichtlich, dass Aróc getötet wurde, während sie im offenen Grab lag. Sie wurde nicht an einem anderen Ort umgebracht und hierhergeschafft. Es führten auch keine Blutspuren zum Sarkophag, die in so einem Fall unvermeidlich gewesen |70| wären. Hätte Bruder Ross sie ermordet, so wäre seine Kutte blutig gewesen. Stattdessen hatte er Blutspuren auf der rechten Hand und am Ärmel. Die sind entstanden, als er sich zur Toten hinuntergebeugt hat.«
Sie deutete auf die Kutte des jungen Mannes.
»Du sprichst in Rätseln«, meinte der Abt besorgt. »Verrate uns die Antwort. Der Mörder hat sich irgendwo in der Kapelle verborgen, richtig?«
Fidelma seufzte.
»Ich hätte gedacht, dass die Lösung auf der Hand liegt.«
Bruder Ross stöhnte leise.
»Ich gestehe! Ich gestehe! Ich habe sie getötet. Ich war es.«
Fidelma schaut ihn mitleidig an.
»Nein, das stimmt nicht.«
Schwester Corb war entrüstet.
»So geht es aber nicht, Schwester. Bruder Ross hat gestanden. Dieses Geständnis kannst du nicht von der Hand weisen.«
Fidelma schaute zu ihr hin.
»Bruder Ross versucht noch jetzt, die Seele seiner Freundin zu retten. Er glaubt, die Bußbücher würden verbieten, dass Schwester Aróc die Sterbesakramente empfangen dürfte, ihre Sünden würden ihr also nicht vergeben und das Begräbnis in geweihter Erde in einem Zustand geistigen Friedens würde ihr verweigert. Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen, Bruder Ross.«
»Die Wahrheit?«, drängte Bruder Echen. »Was ist die Wahrheit?«
»Sie hat sich selbst umgebracht.«
Bruder Ross stöhnte herzzerreißend.
»Wenn man jede andere Erklärung als unmöglich ausschließen kann, dann muss das, was übrig ist, die Wahrheit sein«, merkte Fidelma trocken an. »Habe ich recht, Bruder Ross?«
|71| Die Schultern des jungen Mannes waren resigniert nach unten gesackt.
»Sie … sie war nicht von dieser Welt. Sie hörte Stimmen. Sie glaubte, sie erhielte Anweisungen aus dem Jenseits. Vom heiligen Declan. Sie hatte Visionen. Sie bat mich, den Sarkophag zu öffnen, damit sie die heiligen Gebeine berühren konnte. Ich habe den Stein mit Talg eingerieben, damit sie ihn allein wegschieben konnte, wann immer sie wollte. Sie hat oft davon gesprochen, dass sie sich zu dem Heiligen gesellen wollte. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich umbringen wollte.«
»Was ist geschehen?«, wollte der Abt wissen.
»Ich habe die Pilger zur Kapelle gebracht und bin hineingegangen, falls dort jemand betete, den wir gestört hätten. Ich sah ihren Leichnam im offenen Grab liegen. Die Hände umklammerten noch das Messer in ihrer Brust. Voller Entsetzen begriff ich, was sie getan hatte. Ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit, den Leichnam vor den Pilgern zu verbergen. Wenn ich versucht hätte, den Sarkophag zu schließen, hätte man mich draußen gehört. Ich habe mit Gewalt ihre Hände vom Messergriff gelöst und sie an ihre Seite gelegt. Ich versuchte auch das Messer herauszuziehen, aber es war zu tief eingedrungen. Dabei habe ich mir die Hand und den Ärmel mit Blut beschmiert. Ich nehme an, ich bin in Panik geraten, weil ich fürchtete, die Pilger würden jeden Augenblick hereinkommen. Das Einzige, was mir einfiel, war vorzugeben, ich hätte den Leichnam des Heiligen unverwest entdeckt. Ich hoffte, damit könnte ich die Pilger ablenken, die dann zur Abtei herunterlaufen und mir die Zeit geben würden, den Leichnam verschwinden zu lassen. Ich hatte nicht damit gerechnet …«
Er schaute zu Fidelma und zuckte die Achseln.
»Das Verbrechen des Selbstmords verbietet es, dass sie in geweihter Erde begraben wird«, merkte Schwester Corb an. |72| »Selbstmord gilt als
fingalach
, als Verwandtenmord. Diese Menschen sind nicht besser als Mörder.«
»Deswegen habe ich versucht, sie zu schützen, sodass ihre Seele in Frieden ihre Reise ins Jenseits antreten kann«, schluchzte der junge Mönch. »Ich habe sie so sehr geliebt.«
»Es besteht kein Grund zur Sorge«, versicherte ihm Fidelma sanft. »Schwester Aróc kann in geweihtem Boden begraben werden.«
Nun protestierte der Abt. Fidelma schnitt ihm das Wort ab.
»Rechtlich wurde Schwester Aróc als
mer
, eine Person von nicht völlig gesundem Verstand, eingeordnet. Das Gesetz bestimmt, dass die Rechte der geistig Verwirrten Vorrang vor anderen Rechten haben sollen. Alle von ihnen begangenen Verbrechen werden
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