Todesfee
seiner Stimme lag ein abweisender Unterton. »Bevor der Übeltäter in Gewahrsam genommen und vor einen Brehon gebracht werden konnte, hängten ihn die Leute an einem Baum auf. Diese kleine Marmorstatue wurde Una zu Ehren in der Kapelle aufgestellt, damit sie den Reliquienschrein in alle Ewigkeit bewache.«
»Wer war der Dieb und Mörder?«
Wieder zögerte der Abt. Er war eindeutig nicht sehr glücklich über ihr Interesse.
»Ein Mann, der in den Klostergärten arbeitete. Kein Mitglied unserer Gemeinschaft.«
»Eine traurige Geschichte.«
»O ja«, pflichtete ihr der Abt kurz angebunden bei.
»Hast du Schwester Una gekannt?«
»Ich war damals ein junger Novize, kannte sie aber kaum.« Der Abt drehte sich um und räusperte sich, als wolle er die Erinnerungen wegschieben. »Und jetzt … ich nehme an, du wirst bei uns übernachten?«
»Ich werde meine Reise nach Cashel in der Früh fortsetzen«, bestätigte Fidelma.
|159| »Dann bleib hier, und ich schicke dir Bruder Liag, der für die Herberge zuständig ist. Er wird dich ins Dormitorium der Nonnen bringen. Wir essen nach der Vesper. Entschuldige, dass ich dich jetzt allein lasse. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen.«
Fidelma sah ihm nach, wie er durch den Mittelgang eilte und durch die Türen der Kapelle verschwand. Als sie hinter ihm zufielen, wurde ihr Blick erneut von der ungewöhnlichen Statue angezogen. Sie übte eine seltsame Faszination auf sie aus. Der Künstler hatte die arme Schwester Una tatsächlich zum Leben erweckt, und eine Zeitlang war sie ganz versunken in die eingehende Betrachtung des kunstvollen Werkes.
Da hörte sie hinter sich das Schlurfen von Sandalen und ein überlautes Hüsteln.
Sie wandte sich um. Ein Mönch hatte die Kapelle betreten und war, die Arme in seinem Habit gefaltet, ein Stück entfernt stehengeblieben. Er hatte schütteres Haar und eine traurige Miene.
»Schwester Fidelma? Ich bin der Herbergsmönch, Bruder Liag.«
Fidelma nickte ihm zu, konnte aber den Blick noch immer nicht von der faszinierenden Statue losreißen. Dem Mönch war ihr Interesse nicht verborgen geblieben.
»Ich habe sie gekannt.«
Bruder Liag sprach leise, doch aus seiner Stimme klang eine merkwürdige Ergriffenheit, die sofort ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Ja?«, fragte sie nach einer kurzen Pause ermutigend.
»Sie war so voller Leben, voller Liebe für alle Menschen. Die Gemeinde hat sie verehrt.«
»So wie du?« Das schloss Fidelma aus der unterdrückten Emotion in seiner Stimme.
|160| »So wie ich«, bestätigte Bruder Liag traurig.
»Das ist eine unglückselige Geschichte. Dein Abt hat sie mir erzählt.«
Huschte da ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht? In dem Dämmerlicht war sie nicht sicher.
»Kanntest du auch den Mann, der sie getötet hat?«, hakte sie nach, als es schien, dass er nichts mehr sagen würde.
»Ja.«
»Soviel ich weiß, hat er in den Klostergärten gearbeitet?«
»Tanaí?«
»Hieß er so?«
»Das war der Mann, den die Gemeinde für das Verbrechen gelyncht hat«, bestätigte Bruder Liag.
Fidelma atmete leise aus und blickte auf das marmorne Gesicht des jungen Mädchens.
»Welch elende Vergeltung«, bemerkte sie mehr zu sich selbst.
»Schlimm.«
»Was für ein Mann war dieser Tanaí? Wieso dachte er, dass er, ein Gärtner, den kostbaren Reliquienschrein stehlen und verkaufen könne – denn vermutlich tat er es aus Habgier?«
»So lautete die Theorie.«
Fidelma warf ihm einen raschen Blick zu.
»Du teilst diese Meinung nicht?«
Bruder Liag erwiderte ihren Blick mit unverändert trauriger Miene.
»Ich glaube, wir denken beide dasselbe, Schwester. Um aus solch einem Stück Gewinn zu schlagen, müsste man es kaputtmachen. Wo und wem könnte man ein so kostbares Kleinod verkaufen? Wenn man die Edelsteine davon ablöst, könnte man sie einzeln zu Geld machen. Der Wert des Schreins selbst und der noch größere Wert seines Inhalts gingen vollkommen |161| verloren. Für etwas so Einzigartiges gäbe es keine Abnehmer. Wer sollte so einen Schatz kaufen?«
»Aber wenn Tanaí nur ein Gärtner war, hat er diesen Aspekt des Diebstahls vielleicht nicht bedacht. Möglicherweise hat er nur ein Kästchen mit kostbaren Edelsteinen gesehen und ist von Gier überwältigt worden.«
Zum ersten Mal lächelte der Herbergsmönch; es war eher eine Bewegung seiner Gesichtsmuskeln als ein Gefühlsausdruck.
»Tanaí hat zwar hier als Gärtner gearbeitet, doch er war ein intelligenter Mann. Ursprünglich war er Apotheker
Weitere Kostenlose Bücher