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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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etwas, das eben fließend ist, zerrinnt.
    Aljas redet leise, es klingt fast wie ein altes Lied, als suche sie nach etwas.
    Je mehr Jahre sich aneinanderreihen, desto zwingender erscheint die Logik der Zufälle. Was zusammenfällt, scheint ein Eigenleben zu haben, das sind die Wegmarken. Sie lächelt belustigt.
    Sie war achtundzwanzig, als sie vor fünfunddreißig Jahren mit Achim hierher in die Mühle kam. Es war vielleicht Übermut, eher noch Trotz, sie wollte ungebunden sein, nahm sich ihre Freiheit. Achims große Töne von Idealen sowie sein Fanatismus imponierten ihr, sie verwechselte dies mit Vitalität und Kraft, mit seiner Jugend. Vor allem mit seiner Jugend, sie war fünf Jahre älter, fühlte sich erwachsener als er, war es ja auch. Es war diese Unbekümmertheit, die ihr fehlte, die sie anzog.
    Was zählt heute? Von Achim erfuhr Alja etwas über die Zeit, in der sie lebte. Seine Freunde waren alles Genossen. Achim studierte Soziologie, bereitete die Welt für die Revolution vor. An jenen Wochenenden wurde hier vor allem gekifft. Aljas Rolle bestand darin, neben Achim auf einem Kissen zu sitzen, zu ihm hochzusehen. Sie war es, die einkaufte, kochte und putzte. Dass sie alle eine ›konspirative Zelle‹ sein sollten, darüber ging sie großzügig weg, da verwechselte irgendwer irgendetwas, das waren doch hungernde, russische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts gewesen, eine Elite. Sie konnte so etwas nicht ernst nehmen. Für sie waren das Jungen, wie sie sie immer gekannt hatte, großsprecherisch, etwas unbedarft. Wenn es darauf ankäme, wären sie feige, ein neues Indianerspiel eben. Aljas Kollegin Monika, die Psychologie studierte, nannte es spätpubertäre Phase mit ödipalem Einschuss. Diese Generation leide unter zu strengen Vätern und dämlich mütterlichen Müttern oder Müttern, die frustriert seien und den Töchtern die Pille verübelten. Meist war Alja die einzige Frau in der Gruppe und ihre Meinung interessierte sowieso nicht. Achim war für sie ein umwerfender Mann, Jennys Generation nennt dies ›einen guten Lover‹. Von ihrem späteren Leben aus war auch das zu relativieren.
    Heute sieht Alja diesen Sommer weiter, über die Zeit hinaus. Von einem anderen Sonnensystem aus gesehen hätte diese Liebe einzig dazu gedient, sie hierher zu bringen.
    Eines Abends stolperte sie dann über Achim, der mit einer fremden, jungen Frau auf einer Matratze Liebe übte. Es kam zum großen Krach, sie stand mit ihrer kleinbürgerlichen Reaktion allein da. Wie will einer die Welt verbessern, wenn er Frauen konsumiert? Alles, was Alja an Achim erinnert hat, hat sie melodramatisch in einer kleinen Grube oben beim Aussichtsturm verbrannt. Alja lächelt belustigt: »Achim verschwand spurlos aus meinem Leben. Ich habe nie nach ihm gesucht und habe ihn nie wieder gesehen.«
    Es sind zwei weitere Zufälle, die Alja mit dieser Mühle verbinden, die ihr zu denken geben, weil es in aller Ehrlichkeit reine Zufälle sind.
    Im folgenden Sommer unternahm sie diese Fahrradtour, die wegen einer geschlossenen Barriere hier in die ›Höhen‹ und zu der jetzt verlassenen Mühle führte. Hier traf sie auf diese Frau, die sie nie zuvor gesehen hatte, und war bei Jennys Geburt dabei. Dass die Frau mit diesen Wochenend-Kommunarden etwas zu tun gehabt hätte, kann sie sich nicht vorstellen.
    Der zweite Zufall war der, dass ein Arbeitskollege ihr die Zeitungsannonce zum Verkauf einer Mühle genau zu dem Zeitpunkt unter die Nase streckte, als sie ihren Beruf als Pianistin aufgeben musste. Hätte sie gewusst, dass es ausgerechnet diese Mühle war, nie hätte sie sich mit dem Makler getroffen.
    Bin ich zufrieden? Das alles ergibt keine dunklen Flecken in einer Biografie. Wir wiegen uns auf unserer Schaukel. Ich bedaure, noch nie einen ähnlichen Sommer erlebt zu haben.
    * * *
    Knut und Sven rätseln über den Text eines E-Mails. Einer von Knuts Kollegen vom Spezialdienst hat Knut zuliebe auf die Mailbox von Mattis Platen-Alt ein ›Kleines Auge‹ gelegt. Knut erläutert mir, ›Kleines Auge‹ heißt ›ohne richterlichen Beschluss‹. Der Computer überträgt automatisch alles.
    Das Mail traf am Freitag um 8.12 Uhr ein. Betreff: Projekts Absender: ›espoir‹ Text: w ir wissen von ihren bemühungen und geben ihnen noch eine woche zeit.
    Das Mail kann harmlos sein. Auffallend ist nur, es trägt keine Unterschrift, hat keine Herkunft und lässt sich nicht weiter als bis zu einem Provider in Nantes zurückverfolgen.
    * * *
    Heute ist schon

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