Todesfracht im Jaguar
Gestern abend hatten er und
seine Freunde die ganze Vorstellung verpaßt. Aber das ließ sich verschmerzen.
Daß der Raubtäter Erich Diepold — genannt Edie — gefaßt war, entschädigte
reichlich dafür. Die Kassiererin hatte sich schnell erholt. Gesundheitlicher
Schaden war nicht zu befürchten.
Tim sah zur Uhr. Es war zehn
nach sechs. Er stand auf, hängte sich mit den Fingerspitzen an den Balken über
der Tür und machte 29 Klimmzüge. Den 30. schaffte er nicht mehr. Die Nacht war
zu kurz gewesen. Ein Rest Müdigkeit steckte in den Knochen. Wenn schon! Unter
der kalten Dusche machte er sich vollends munter. Dann begann er, seine
Sieben-Sachen zu packen. Klößchen pennte noch. Er würde ab heute Tims Gastgeber
sein, hatte ihn nämlich eingeladen, während der ersten Ferienwoche im Hause
Sauerlich zu wohnen — selbstverständlich mit freundlichster Einwilligung der
Eltern, die morgen oder übermorgen aus Italien zurückkamen.
Die zweite und dritte
Ferienwoche wollte Tim mit seiner Mutter an der Ostsee verbringen — hoffentlich
bei gutem Wetter. Denn auf seinem Programm stand: Segeln, Surfen, Radtouren
unternehmen. Außerdem wollte er seine naturbraune Haut noch brauner brennen
lassen.
Eine Woche, dachte er, habe ich
noch Zeit, um hier auf den Putz zu hauen — mit meinen Freunden. Völlig klar,
daß wir Gabys Vater unterstützen. Er darf zwar nichts davon merken — aber die
verdammten Rauschgift-Dealer werden es zu spüren bekommen. Jedenfalls zum
Schluß.
Für ihn stand fest: Die
Heroin-Sendung im Tigerkäfig war sozusagen nur die Spitze des Eisbergs. Im
Verborgenen lauerte und drohte viel mehr: eine Dealer-Organisation, für die das
Rauschgift bestimmt war.
Immer wieder mußte er an den
Typ im schwarzen Porsche denken — den Typ, mit dem der Tierpfleger Caldo
geredet hatte.
„Aufstehen, Willi!“
Er rüttelte ihn.
Es half nicht.
Erst nachdem er Klößchen
fünfmal hin- und hergewälzt hatte, öffnete sein Freund ein Auge.
„Sind schon Ferien?“
„Ab heute.“
„Dann laß mich schlafen,
verdammt noch mal!“
„Steh auf! Es gibt Zeugnisse.“
„Davon will ich nichts sehen.“
„Außerdem gibt’s zum Frühstück
Waffeln. Frische Waffeln — mit Schokolade gefüllt.“
„Hm.“
Während des Frühstücks im riesigen
Speisesaal ging es anfangs noch fröhlich zu. Die älteren Schüler scherzten mit
den Küchenhelferinnen, den einzigen weiblichen Wesen innerhalb des
Internats-Traktes. Die jüngeren Schüler stürzten sich auf die Waffeln.
Dann sprach sich die Nachricht herum.
Betroffenheit breitete sich aus. Tim sah nur noch ernste, verstörte Gesichter.
„Da läuft es einem kalt über
den Rücken“, meinte Klößchen und griff nach der fünften Waffel.
„Ein Grund mehr, daß wir zu
unserem Entschluß stehen“, stieß Tim durch die Zähne.
„Zu welchem Entschluß? Wozu
stehe ich denn?“
„Das sage ich dir nachher, wenn
Karl und Gaby kommen. Mir genügen auch diese Infos hier nicht. Das klingt alles
so gerächte weise. Sicherlich weiß Gaby, was wirklich war.“
Sie wußte es.
Sie und Karl kamen — wie immer
bei schönem Wetter — auf ihren Tretmühlen zur Schule.
Am Fahrradplatz fingen Tim und
Klößchen sie ab.
„Beim Frühstück vorhin“, sagte
Gaby, „hat mir Papi alles erzählt. Es ist wirklich erschütternd. Ihr kennt ja
Christine Zögl. Sie geht in die 11 a, glaube ich. Daß...“
„11b“, sagte Klößchen.
„Daß sie schon seit Monaten
furchtbar elend aussieht“, fuhr Gaby fort, „ist allen aufgefallen. Aber
Christine leidet an Asthma. Darauf hat man das zurückgeführt. Außerdem ist sie
seelisch total kaputt. Ihre Eltern haben sich vor drei Monaten scheiden lassen.
Die Mutter ist mit einem amerikanischen Offizier nach Chicago abgehauen, und
Christine wohnt bei ihrem Vater, mit dem sie sich nicht gut versteht.“
„Und?“ fragte Klößchen. „Hat
sie wirklich versucht, sich umzubringen?“
Gaby nickte. „Heute nacht. Mit
einer Überdosis Heroin wollte sie ihr Leben beenden. Sie spritzt sich das
Teufelszeug schon lange, wie jetzt herauskam. Sie ist total süchtig — und
deshalb ausgerastet. Den goldenen Schuß wollte sie sich setzen. Aus
Verzweiflung. Aber sie wurde von ihrem Vater gefunden. Das war so gegen
Mitternacht. Im Krankenhaus haben die Ärzte um ihr Leben gekämpft. Sie würde es
schaffen, hieß es gegen Morgen. Das war das letzte, was mein Papi erfahren
hat.“
„Das muß man sich vorstellen“,
sagte Tim. „Christine ist 17 und
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