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Todesfracht

Titel: Todesfracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Cussler
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Maschinenraum.

19
    Z u viel Zeit war verstrichen, seit Eddie Seng während seines ersten Jahres an der NYU im Literaturkurs gesessen hatte, um sich noch daran erinnern zu können, wie viele Kreise der Hölle Dante in seiner
Göttlichen Komödie
beschrieben hatte.
    Er war sich jedoch sicher, noch einen Kreis unterhalb dessen entdeckt zu haben, was sich der mittelalterliche italienische Dichter vorgestellt hatte.
    Sobald ihre Maschine nach ihrem sechsstündigen Flug gelandet war, wurden Eddie und die anderen Flüchtlinge in einen Frachtcontainer gescheucht. Die darauf folgenden Bewegungen ließen ihn vermuten, dass der unbelüftete Stahlkasten zu einem Hafen gebracht und für eine weitere zehnstündige Fahrt auf ein Schiff geladen wurde. Das einzige Zeichen, das Eddie einen Hinweis auf seinen neuen Aufenthaltsort lieferte, waren kühlere Temperaturen. Wenn er das Wetter und einen sechsstündigen Flug mit etwa fünfhundert Knoten Reisegeschwindigkeit einrechnete, tippte er auf eine Position innerhalb eines Umkreises, der die nördliche Mongolei, Südsibirien und die russische Küste mit einschloss. Und da es im Hinterland keinen See gab, der eine zehnstündige Schiffsfahrt nötig gemacht hätte, kam er zu dem Schluss, dass er sich entweder auf der Halbinsel Kamtschatka oder irgendwo an der Küste des Ochotskischen Meeres befand.
    Der Container wurde abgeladen und hart genug auf dem Boden aufgesetzt, um die Männer in seinem Innern durcheinanderzuwerfen. Sekunden später wurden die Türen geöffnet, und Eddie konnte seinen ersten Blick auf die Hölle werfen.
    Dunkle Berge ragten in der Ferne auf. Ihre Gipfel waren von einer Art Ruß umwölkt, sodass die zerklüfteten Felsnadeln aussahen wie verschmiert. Er musste mehrmals blinzeln, um sie halbwegs erkennen zu können. Der Strand, auf dem er stand, war mit Gestein bedeckt, das vom Wasser abgeschliffen worden war und das in der Größe von Kies bis hin zu Bowlingkugeln reichte. Die Brandung ließ die Steine bei jedem Wellenschlag klappernd gegeneinanderprallen. Der Ozean dahinter war glatt und dunkelgrau und schien eine Bedrohung zu signalisieren, die Eddie mit der sprichwörtlichen Ruhe vor dem Sturm in Verbindung brachte.
    Es waren nicht diese Dinge, die Eddies Geist einen Schock versetzten. Es war das menschliche Leid, das sich auf dem Hügel abspielte, der aus dem Meer aufstieg. Das war eine Szene wie aus dem Film
Holocaust
. Ausgemergelte Gestalten, derart schmutzverschmiert, dass nicht eindeutig festzustellen war, ob sie Kleidung trugen, bedeckten den Berghang. Auf der ganzen Fläche herrschte ein dichtes Gewimmel wie auf einem aufgedunsenen Tierkadaver, der von Maden verzehrt wird. Aufgrund ihres jämmerlichen Zustands erschienen die Gestalten geschlechtslos und unmenschlich.
    Es mussten an die zweitausend Menschen sein, die dort auf dem Berghang arbeiteten.
    Einige stiegen, mit leeren Eimern beladen, hangaufwärts, während andere unter ihrer Last bergab taumelten. Auf einem halbwegs ebenen Absatz, etwa drei Viertel den Hang hinauf, schaufelten Männer Schlamm in die Eimer. Sie bewegten sich wie Roboter, als könnten ihre Körper keine andere Tätigkeit mehr ausführen, als zu schaufeln. Weiter oben auf dem Berghang bedienten andere Männer Wasserkanonen. Die Kanonen wurden durch Schläuche gespeist, die sich über die Landschaft dorthin schlängelten, wo sich Schmelzwasser von den fernen Bergen in einem eigens dafür angelegten Tümpel sammelte. Die Schwerkraft drückte das Wasser so durch die Schläuche, dass es in einem Bogen als scharfer, dünner Strahl aus den Düsen schoss, den die Arbeiter über einem Erdwall hin und her schwenkten, um bei jeder Bewegung eine weitere Erdschicht wegzuspülen. Überschüssiges Wasser strömte aus den Kanonen den Hang hinunter und sammelte sich auf dem Erdboden, bis es eine flüssige Schicht bildete, mindestens genauso trügerisch und gefährlich wie Treibsand. In diesen ersten Sekunden, die Eddie den Anblick auf sich einwirken ließ, völlig gelähmt von dem, was er sah, wälzte sich plötzlich eine hohe Welle Schlamm den Berghang hinunter. Diejenigen, die nicht schnell genug reagierten, wurden von der Woge erfasst und stürzten den Hang hinab. Einige kamen schnell wieder auf die Füße. Andere langsamer. Und einer gar nicht mehr. Schon bald war er lebendig begraben.
    Niemand unterbrach seine Arbeit.
    Über den Tagebau waren auf Holzgerüsten Tarnnetze ausgebreitet, mit den gleichen Schwarz-, Grau- und Braunschattierungen

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