Todesfracht
unleserliche Gekritzel zu entziffern. »Die an achtern gelegene Steuerbordtür führt zu einer Treppe, die abgesperrt werden kann.«
»Sie müssen dort hingehen und sich einschließen. Begeben Sie sich dorthin und verlassen Sie den Raum nicht, egal was passiert. Vertrauen Sie mir.«
Tory nickte und erhob sich mühsam vom Bett. Während sie im eisigen Wasser stand, grub sich die Qual in ihre Gesichtszüge. Juan konnte fast körperlich spüren, wie sich die eisigen Finger der brutalen Kälte um ihre Muskeln krampften und versuchten, ihr Gehirn lahmzulegen. Sie schlurfte durch den Raum, verlor das Gleichgewicht, schaffte es beinahe, sich an der Wand abzustützen, stürzte dann jedoch zu Boden. Wenn er sich durch das Bullauge hätte zwängen können, hätte Juan es sofort getan und sie tröstend in die Arme genommen. So aber schwebte er hilflos im Wasser vor dem Bullauge, während sich Tory hochzog. Sie war triefnass, stolperte zur Tür, ohne sich umzudrehen, und bewegte sich dabei steifbeinig vorwärts wie ein Zombie in einem Horrorfilm.
Sobald sie nicht mehr zu sehen war, schwamm Juan zu der Tür, die sie beschrieben hatte. Während er sich von der Reling abstieß, erblickte er vier andere Taucher, die damit beschäftigt waren, eine Kabelschlinge an den Achterpollern der
Avalon
zu befestigen. Sie hatten große Unterwasserscheinwerfer mitgebracht und arbeiteten zügig in ihrem grellen Schein. Er stellte sich vor, dass ein ähnliches Team in gleicher Weise auf dem Vorschiff an der Arbeit war. Das Schiff hatte jetzt eine Tiefe von hundert Fuß erreicht. Auch wenn die Kräne das Forschungsschiff nicht heben konnten, die
Oregon
würde für eine Weile doch verhindern, dass sie noch tiefer sank.
Aber die Tiefe war nicht das Problem. Torys Durchhaltevermögen gab Anlass zur Sorge.
Was Cabrillo und seine Mannschaft nicht wussten, war, dass die
Avalon
sowohl vorn als auch achtern über große Frachträume verfügte, die sich vom Kielraum bis zum Hauptdeck und fast über die gesamte Länge des Schiffs erstreckten. Bislang waren sie dank der dicht verschlossenen Schotts und motorgesteuerten Klappen des Belüftungssystems, das sie nahezu luftdicht absperrte, trocken geblieben. Es war sein Auftrieb, der dazu beitrug, dass das Forschungsschiff nicht in die Tiefe sank. Während Juan die Tür untersuchte, begann eine der abgeriegelten Lüftungsöffnungen unter dem ständig zunehmenden Druck des Wassers innerhalb des Belüftungssystems nachzugeben. Ein flacher Wasserstrahl drang durch einen Schlitz zwischen zwei Lamellen ein. Er ergoss sich als feiner Nebel in den Frachtraum.
Die Öffnung zwischen den Lamellen war winzig, und nur ein paar Liter drangen pro Minute in den Frachtraum ein – aber mit jeder Sekunde vergrößerte sich die Öffnung, und es war nur eine Frage der Zeit, ehe die Lamellenklappe vollständig nachgab und eine dicke Wassersäule in den Frachtraum rauschte.
Die Tür, stellte Juan fest, war eine solide Klappe, die mit Außenscharnieren angeschlagen war. Er konnte den Verschluss leicht bewegen, sobald er den Stahlstab entfernte, der eine Flucht der Schiffsbesatzung während des Überfalls verhindert hatte. Nur der Druck der Wassermassen hinderte ihn daran, das Schott zu öffnen. Zu diesem Zweck musste er den Druck auf beiden Seiten ausgleichen. Und dazu musste er den Vorraum auf der anderen Seite fluten, während Tory darin gefangen war. Es war ein einfaches Konzept, und während Tory der schrecklichste Augenblick ihres Lebens erwartete – wenn der Raum sich mit Wasser füllte –, würde Juan sie herausgeholt und an eine Reserveluftflasche gehängt haben, ehe sie in ernste Gefahr geriet.
Er winkte einen der Taucher zu sich und schrieb auf seine Tafel, was er benötigte. Dieser Mann trug einen Vollhelm mit integrierter Sprechanlage, die ihm gestattete, mit dem Tauchmeister an Bord der
Oregon
zu kommunizieren. Juan trommelte den Rhythmus von »Shave and a Haircut« auf die Tür, während er sowohl auf Tory wie auch seine Bestellung vom Schiff wartete.
Die Wartezeit auf beides erschien endlos, doch als der Korb mit Werkzeug und Tauchausrüstung von oben herabgelassen wurde und Tory noch immer nicht in der Kammer angekommen war, begann Juan bereits das Schlimmste zu befürchten.
Mit den Leichen ihrer Freunde im Treppenraum eingesperrt zu sein war schon schlimm genug. Was den psychischen Stress jedoch noch um einiges steigerte, war die Tatsache, dass sich ihr Gefängnis hundert Fuß tief unter Wasser und
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