Todesfracht
rannte quer über das abgedeckte Bassin und ließ seinen Partner zurück, der sich hektisch bemühte, seine Blase zu leeren.
Nach wenigen Sekunden wurde Nikoli von der Dunkelheit verschluckt. Dies musste offenbar die Standardprozedur sein. Falls jemand etwas Verdächtiges sah, musste der andere sofort losrennen und das Wachhaus anfunken.
»Übernehmen Sie ihn«, befahl Linda, ohne auf den Wächter an der Reling zu deuten. Sie sprintete hinter Nikoli her. Nachdem sie wenige Meter auf der straff gespannten Plane zurückgelegt hatte, spürte sie die Schwingungen der Schritte des offensichtlich russischen Wächters vor ihr.
Das steife Gewebe streckte sich unter dem Gewicht ihrer langen Schritte und sorgte dafür, dass ihre Knie immer wieder nachgaben. Darauf verließ sie sich. Mit ihren 108 Pfund Körpergewicht plus dem Gewicht ihrer Ausrüstung war sie wahrscheinlich immer noch gut siebzig Pfund leichter als der Wächter. Für ihn musste es so sein, als versuchte er, über ein schlaffes Trampolin zu rennen. Sie sah den matten Glanz seiner Maschinenpistole und den Streifen weißer Haut unter seinem Haaransatz. Sie hatte die Glock schussbereit in der Hand.
Der Wächter musste gespürt haben, wie sie aufholte. Er hatte versucht, ein Walkie-Talkie aus einer Gürtelhalterung zu ziehen.
Er ließ jedoch von dem Funkgerät ab und machte Anstalten, sich umzudrehen und seine Waffe in Anschlag zu bringen. Linda ließ sich fallen, rutschte über die Plane und zielte mit ihrer schallgedämpften Pistole. Sie feuerte, sobald ihre Rutschpartie endete und sie zur Ruhe kam.
Der Schuss ging daneben, doch der Wächter fiel um. Für die Dauer eines Herzschlags blieb er still liegen. Linda erhob sich und feuerte das Magazin so schnell leer, wie sie den Abzug betätigen konnte. Die Entfernung betrug knapp zwanzig Meter.
Auf einem Schießstand traf sie auf diese Entfernung mit elf von zwölf Schüssen ins Schwarze. Auf dem dunklen Deck eines stampfenden Schiffs konnte sie von Glück sagen, wenn wenigstens eine Kugel ihr Ziel fand. Das Neun-Millimeter-Geschoss traf den Russen in der rechten Schulter und riss ihm fast den Arm ab. Der massige Mann kam schwankend auf die Füße. Sein Arm hing nutzlos von der Schulter herab, und das Blut, das über seine Uniform rann, glänzte wie Öl. Die Maschinenpistole war ihm aus der Hand gerutscht, und trotzdem machte er Anstalten, Linda anzugreifen.
Da sie keine Zeit zum Nachladen hatte, kämpfte sie sich hoch, um auf seine Attacke reagieren zu können. Sie versuchte, seinen Schwung auszunutzen, um ihn mit einem Hüftwurf aufs Deck zu schleudern. Doch der Wächter schaffte es, seinen heilen Arm um ihren Hals zu schlingen, und sie gingen beide zusammen zu Boden. Sein Knie bohrte sich in ihre Brust, als sie stürzten. Linda bemühte sich, ihre Lungen wieder zu füllen, und rang nach Sauerstoff, während sie gleichzeitig versuchte, auf die Füße zu kommen.
Tödlich verwundet versuchte Nikoli ebenfalls, sich aufzurichten, und hatte plötzlich ein Messer mit einer zehn Zentimeter langen Klinge in der Hand. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Unbeholfen stieß er von unten nach oben nach ihr, doch Linda konnte diesem Angriff mühelos ausweichen. Sie zog sich ein Stück zurück, um Platz und Zeit zu gewinnen, um die Glock nachzuladen, doch der Russe ließ nicht locker und verfolgte sie.
Indem sie ihre Taktik änderte, ging Linda nun ihrerseits zum Angriff über und verpasste dem Mann einen Tritt seitlich gegen sein Knie. Sie hörte und spürte, wie Knorpel und Sehnen brachen und rissen. Nikoli brach zusammen. Sie rammte ein frisches Magazin in den Griff ihrer Waffe und lud durch. Nikoli lag reglos in einer Pfütze Blut, die aus seiner Schulterwunde weiter gespeist wurde. Linda tat einen vorsichtigen Schritt vorwärts.
»
Njet, Specivo
«, flüsterte der Wächter, als sie in sein Gesichtsfeld geriet.
Sie verharrte, als ihr klar wurde, dass seine Messerhand unter seinem Körper verborgen war. Er war noch immer gefährlich.
Sie packte ihre Pistole fester. Sie sollte ihn erschießen, doch wenn sie ihn lebend auf die
Oregon
schaffen könnte, hätten sie ihre erste handfeste Spur.
»Zeig mir das Messer«, befahl sie.
Nikoli schien sie zu verstehen. Vorsichtig zog er die Hand mit dem Messer hervor. Durch diese Bewegung wich jegliches Blut aus seinem Gesicht. Linda war einen guten Meter von ihm entfernt, ganz außerhalb seiner Reichweite, und sie würde ihm eine Kugel durch den Kopf schießen,
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