Todesfrist
Ihren Vater und andere Menschen schreiben, die wir jedoch nie abschicken.«
Sie machte eine Pause. Bisher hatte Carl alles interessiert in sich aufgesogen – zumindest schien es so.
»Aber die wichtigste Arbeit«, fuhr sie fort, »findet nicht in diesem Raum während unserer Sitzungen statt, sondern draußen … an Ihrem Arbeitsplatz, in Ihrer Wohnung, im Umgang mit anderen Menschen.«
»Sicher doch«, murmelte er, als hätte er das alles bereits hundertmal gehört. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie andere Methoden funktionieren?«
Rose schmunzelte. Seine direkte Art, zu fragen, war erfrischend. »In Österreich sind zweiundzwanzig Methoden anerkannt – das heißt, dafür bezahlt die Krankenkasse einen Zuschuss. Ja, die meisten sind mir bekannt.«
Er hob die Augenbrauen.
»Nun, Psychotherapeuten müssen jährlich Weiterbildungen machen. Manchmal lasse ich Übungen aus meiner systemischen Zusatzausbildung einfließen. Damit können wir beispielsweise Ihre Beziehungen zu Freunden, Kollegen und Familienmitgliedern mit Aufstellungen analysieren oder auf einem Beziehungsbrett nachstellen.«
»Woher wissen Sie, ob das funktioniert?«
Was für ein Scherzbold! Sie schmunzelte. »Während der berufsbegleitenden Ausbildung mussten wir selbst als Klienten Therapiesitzungen nehmen. Minimum: zweihundertfünfzig Stunden Selbsterfahrung.«
Er blähte die Wangen und stieß die Luft aus. Das hatte ihm wohl keiner der Psychoanalytiker erzählt – aber Rose hatte kein Problem, offen darüber zu reden. Sie hatte immerhin dreihundertfünfzehn Stunden absolviert.
»Haben Sie weitere Fragen? Falls nicht, würde ich gern das Organisatorische besprechen.«
Er ließ sich gegen die Lehne zurücksinken.
»Im Gegensatz zu Ärzten haben Psychotherapeuten gesetzlich eine strengere Verschwiegenheitspflicht. Ärzte dürfen sich mit Kollegen über ihre Patienten austauschen, aber unsere Verschwiegenheit ist strikter. Wir dürfen nur dann mit Ärzten, Behörden oder Angehörigen über Therapieinhalte sprechen, wenn der Klient damit einverstanden ist. Allerdings hebt die Gefährdung Ihres Lebens oder das einer anderen Person meine Schweigepflicht auf.«
Carl nickte.
»Sollten Sie alkoholisiert oder unter Einfluss von Drogen zur Sitzung erscheinen, muss ich die Stunde absagen.« Auch das war für ihn in Ordnung. »Ich empfehle, wöchentlich zu starten. Zu unserer vierten Sitzung nehmen Sie bitte diese von Ihrem Hausarzt ausgefüllte Bestätigung der ärztlichen Untersuchung bei Inanspruchnahme einer psychotherapeutischen Behandlung mit. Das legen wir dem Gericht gemeinsam mit einem Situationsbericht und einer vorläufigen Diagnose vor, um die vollständige
Kostenübernahme für weitere Stunden zu beantragen.« So lautete das Standard-Prozedere, wenn das Gericht der Auftraggeber war.
Carl ignorierte das Formular. »Wozu brauchen wir diesen Zettel, wenn ich die Therapie ohnehin machen muss?«
»Ich will mich bloß absichern, dass Sie körperlich gesund sind.«
»Ist auch ein Urintest vorgesehen?«
»Nehmen Sie zurzeit Drogen?«
»Nein.«
»Dann haben Sie nichts zu befürchten.«
Er faltete das Formular und steckte es ungelesen in die Hemdtasche. Wieder rutschte er an die Kante der Couch, diesmal jedoch näher zu ihr. Der Geruch von Maschinenöl lag in der Luft. Vermutlich kam er direkt aus der Autowerkstatt. In einer offensichtlich unbewussten Geste schob er sich die Hemdsärmel nach oben. Für einen Augenblick sah Rose an der Innenseite beider Unterarme hässliche Brandnarben.
»Ich habe gehört, dass Ärzte und Therapeuten auch dann eine vereinbarte Sitzung verrechnen, wenn sie vierundzwanzig Stunden vorher abgesagt wird.«
»Das ist richtig.« Kein Wunder, dass Carl bestens informiert war. Mit jeweils vier Stunden bei seinen letzten drei Therapeuten verfügte er über einen breiten Erfahrungsschatz. Doch andererseits konnte ihm das egal sein, da die Kosten ohnehin das Gericht übernahm.
»Aber wenn ich nun«, druckste er herum, »auf dem Weg zu Ihnen einen Autounfall habe oder erfahre, dass meine Mutter im Krankenhaus liegt und ich sie besuchen muss, dann …«
Carl ließ den Satz unausgesprochen. Er wollte sie testen, wie schon zuvor, als er wissen wollte, welche Ausbildung sie zur Therapeutin qualifizierte.
»Zunächst einmal hoffe ich, dass Ihnen und Ihrer Mutter nichts Schlimmes passiert«, antwortete Rose. »Aber in solchen Fällen verrechne ich natürlich nichts, und wir holen die Sitzung zu einem anderen
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