Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
gab zu bedenken, dass die Gefahr doch nur für seinen Bruder bestünde und der habe sich entschieden, das Konzert trotzdem zu geben. Er meinte, dass sein Bruder das eigene Leben hinter die Musik stellen würde und dass sich der Chor daran ein Beispiel nehmen und sich hinter seinen Dirigenten stellen solle. Etwas pathetisch, wenn du mich fragst, aber die Wirkung gibt ihm recht.“
Inzwischen war auch das Orchester eingetroffen und von Herrn Mangold durch die Sicherheitsschranke geschleust worden. Die Musiker packten ihre Instrumente aus und nahmen Platz. Jeder spielte noch ein paar Stellen an und der Klangteppich aus verschiedenen Motiven der h-Moll-Messe elektrisierte Gerda. Bald würden sie anfangen. Auf das Konzert hatte sie sich schon so lange gefreut und sie hoffte, dass sie es trotz der Umstände genießen konnte.
Die Musiker hatten sich zwar über das Polizeiaufgebot gewundert und es war für alle das erste Konzert, vor dem sie und ihre Instrumentenkoffer durchleuchtet wurden, aber sie nahmen es mit Humor. Von einem Polizeibeamten wurden sie über die verdeckten Sicherheitsmaßnahmen aufgeklärt. Diese Information schien den Musikern zu genügen; sie mussten sich in ihrem Beruf mit so vielen Widrigkeiten arrangieren, da stellte dieses Konzert keine besonders große Ausnahme dar. Und wenn es sowieso feststand, dass der Dirigent das potentielle Ziel war, dann fühlten sie sich außerhalb der Schusslinie auf ihren Plätzen zu seinen Füßen sicher.
Wellenstein begrüßte die Musiker und sprach kurz mit der Konzertmeisterin. Gerda konnte es nicht verstehen, aber sie sah, dass die Musikerin lachte und Wellenstein bewundernd ansah. Dass der in dieser Situation noch den Nerv für einen kleinen Flirt hatte! Jetzt gab der Dirigent dem Chor das Zeichen. Er hatte darauf bestanden, auch das Aufstellen auf dem Podest noch einmal zu üben. Schließlich war das kein Konzert wie jedes andere und nach der Eröffnung vorhin wusste er, dass seinen Sängern ein wenig Routine Sicherheit vermitteln würde. Das Einlaufen war für die Kantorei-Mitglieder längst keine Herausforderung mehr. Jeder kannte seinen Platz und auch auf den schmalen Stufen des Podests wusste jeder, wie er sich zu positionieren hatte, dass alle Platz fanden. Heute klappte allerdings gar nichts. Hier stolperte jemand, dort hatte sich jemand an die falsche Stelle gestellt. Früher hätte Wellenstein bereits bei dem ersten Patzer abgebrochen und ein Donnerwetter über seinen Chor ergehen lassen. Heute war er milder. Er wartete, bis alle standen.
„Ich weiß, dass heute vieles anders ist und ich hätte mir das Konzert auch un ter anderen Umständen gewünscht, das dürfen Sie mir glauben. Ich bin Ihnen unendlich dankbar, dass Sie das Böse nicht über die Musik siegen lassen wollen und geblieben sind.“ Er wandte sich an die Orchester-Musiker. „Vielen Dank auch an das Consortium musicum virngrundiensis, es ist nicht selbstverständlich, dass Sie unter diesen Umständen spielen. Es wird auch nicht zu Ihrem Nachteil sein, meine Damen und Herren.“ Die Musiker bedankten sich für diese spontane Gehaltserhöhung und die Streicher klopften mit ihren Bögen auf den Notenständern Beifall. „Ich wünsche uns allen trotzdem eine erfüllende Begegnung mit Bachs h-Moll-Messe. Und Sie wissen ja, in der Generalprobe darf ruhig etwas schief gehen, dann wird das Konzert richtig gut. Das mit dem Einlaufen klappt nachher besser, da bin ich mir ganz sicher. Jetzt schlagen Sie bitte Ihre Noten auf, wir beginnen von vorn und singen jeweils ein paar Takte des Anfangs und des Schlusses jeder Nummer. Wichtig sind mir die Übergänge.“
Wellenstein hob den Taktstock und die Musiker machten sich bereit. Alle Augen ruhten auf dem Dirigenten und der genoss den Augenblick, in dem alle auf sein Kommando das Kirchenschiff mit Musik erfüllten. Alle Anwesenden wurden von dem Klangkörper der Kantorei überwältigt. Georg spürte, dass er eine Gänsehaut bekam. Er vergaß für einen kurzen Augenblick, warum er so früh gekommen war. Der Musik konnte er sich nicht entziehen, sie durchdrang ihn vollständig. Auch wenn Wellenstein inzwischen eine Größe auf dem Musikmarkt war, zu dieser Meisterschaft hatte erst sein Nachfolger die Kantorei geführt. Unter Willi Hensler war die Bärlinger Kantorei ein Chor der Spitzenklasse geworden.
Gerlinde und Eugen hatten in der Mitte einer Kirchenbank Platz genommen und Georg sah, dass seine Mutter die Augen geschlossen und den Kopf an die
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