Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
Frauen verband ihn mehr als nur die Liebe zur Musik. Jede einzelne seiner amourösen Begegnungen konnte er sich dank der Karten wieder ins Gedächtnis rufen, die Vorlieben der Frauen hatte er sorgfältig dokumentiert ebenso die Dauer ihres Verhältnisses. Welche Neigungen es doch gab! Mit welch einfachen Komplimenten ein Herz sich öffnete! Wellensteins Karten bargen Geheimnisse, von denen selbst mancher Lebenspartner nichts ahnte. Der Dirigent rief sich lustvolle Stunden in Erinnerung und wurde aber auch der wenig befriedigenden Zusammenkünfte gewahr. Auch die hatte er penibel dokumentiert. Die beteiligten Damen hatten ihre Quittung unmittelbar bekommen und eine schlechte Zensur neben ihrem roten Kreuz auf der Karte erhalten. Sie waren in der Regel nach kurzer Zeit freiwillig aus der Kantorei ausgeschieden. Die Damen, die reüssierten, blieben ihrem Maestro erstaunlicherweise auch nach dessen Liebesentzug gewogen und zählten zum Teil noch heute zu den aktiven Sängerinnen. Wellenstein freute sich auf die Begegnungen morgen und er war gespannt, ob er immer noch auf seine Wirkung vertrauen konnte. Gleichwohl wusste er, dass die Zeiten sich geändert hatten. Nichts mehr würde so sein wie früher; er war älter geworden und fühlte sich mittlerweile gegen weitere Versuchungen des weiblichen Geschlechts immun.
Esther hatte die Arbeit in der Küche beendet und einen kleinen Teller mit Kostproben angerichtet. Vielleicht konnte sie auf diese Weise erfahren, was genau mit ihrer Schwiegermutter passiert war. Bevor sie die Küche verließ, steckte sie noch einen Umschlag, der an ihren Mann adressiert war, in die Schürze und ging zu ihm.
Nach kurzem Klopfen trat sie ein. Ihr Mann hatte nur die Tischleuchte brennen, sodass der hintere Teil der Bibliothek im Dunkeln lag. Er saß am Schreibtisch und schien zu arbeiten. „Ich will dich nicht lange stören, du hast bestimmt noch zu tun. Aber ich habe dir ein paar Kleinigkeiten zusammengestellt, die sich vielleicht für das Büfett am Freitag eignen könnten. Willst du sie mal versuchen?“ Sie stellte ihrem Mann den Teller auf den Schreibtisch und machte es ihm unmöglich, länger konzentriertes Arbeiten vorzutäuschen. Um sie möglichst schnell wieder loszuwerden, griff er nach einem der kleinen Zwiebelkuchen und biss hinein. „Ganz köstlich, wunderbar. Sonst noch was?“
Trotz der Zurückweisung vorhin wagte Esther noch einen Vorstoß. „Vielleicht brauchst du jemanden zum Reden oder zum Zuhören?“ Wellenstein wischte ihren Versuc h mit einer Handbewegung fort und wandte sich wieder seinen Karten zu. „Nein, wirklich nicht. Danke. Ich bereite mich noch auf die Probe morgen vor.“ Die Sache war für ihn damit erledigt. Esther würde heute nichts mehr von ihm erfahren, soweit kannte sie ihren Mann. Bevor sie den Raum verließ, holte sie noch den Umschlag aus ihrer Küchenschürze hervor und legte ihn ihrem Mann auf den Schreibtisch. „Der war heute für dich im Briefkasten.“
Wellenstein wartete , bis seine Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte und nahm den Umschlag in die Hand. Mit Schreibmaschine war sein Name darauf getippt, wobei das „W“ in seinem Nachnamen etwas höhergestellt war. Offensichtlich war das Hämmerchen dieses Buchstabens defekt. Er drehte den Umschlag um, kein Absender, stattdessen war mit Bleistift 3/4 auf der Rückseite notiert. Sein Puls beschleunigte sich. Er beherrschte sich trotz der Nervosität, die ihn ergriffen hatte und öffnete den Brief vorsichtig mit einem Brieföffner. Er nahm den Briefbogen heraus und entfaltete ihn mit zitternden Fingern. Das war der dritte Brief dieser Art, den er bekam. Wieder war der Text aus unzähligen einzelnen Buchstaben und Wörtern zusammengeklebt. Wellenstein ließ seine Augen wieder und wieder über die Buchstaben-Collage gleiten. Erneut diese Drohungen, dieser Zynismus, dieses Spiel mit seiner Angst. Was sollte das?
Wellenstein nahm die beiden ersten Briefe aus seinem Schreibtisch und legte sie nebeneinander. Kein Zweifel, die Texte musst en von derselben Person stammen. Was wollte dieser Unbekannte nur von ihm? Er stellte keine Forderung, er schien ihn nur zu verhöhnen und ihm Leid anzudrohen. Wellenstein wusste nicht, was er tun sollte. Er sortierte die Briefe nach der Reihenfolge ihres Zugangs und las jeden einzelnen noch einmal aufmerksam durch und blieb jeweils bei den letzten Sätzen der Briefe hängen: Deine Liebe wird sterben! , Dein Ego wird zerstört werden! und Deine
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