Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
Vergangenheit wird ausgelöscht! . Wellenstein überlegte erneut, wer ihn so hassen konnte, dass er diese schlimmen Drohungen aussprach.
Der Dirigent dachte an die Anfeindungen der letzten Tage, denen er sich ausgesetzt sah. Hatte der Tod seiner Mutter vielleicht etwas mit diesen Briefen zu tun? Sollten die Angriffe auf seine Person kein Zufall gewesen sein, sondern Teil einer grausamen Strategie, um ihn um den Verstand zu bringen? Meine Liebe ist gestorben, dachte sich Wellenstein, sie ist vielmehr umgebracht worden und ja, an meinem Ego wurde in den letzten Tagen ordentlich gezerrt. Fehlt nur noch meine Vergangenheit, die ausgelöscht wird.
Wellenstein nahm einen Schluck Wein. Hier in der Bibliothek war er ehrlich zu sich selbst, nur hier ließ er die Maske der Souveränität fallen. Der Dirigent war aufgewühlt und fühlte, dass ihm die Angst fast die Luft zum Atmen nahm. Er gestand sich ein, dass ihm die Fäden entglitten waren und er nicht mehr die Richtung bestimmte. Er wusste nicht mehr weiter und dieses Gefühl der Ohnmacht ließ ihn wütend werden. Er schob die Briefe in die Schreibtischschublade zurück und setzte sich ans Klavier. Seinen Zorn und seine Verzweiflung fanden hier ein Ventil.
Est her Wellenstein war inzwischen ins Bett gegangen. Sie konnte keinen Schlaf finden, ihre Gedanken kreisten um ihre tote Schwiegermutter und ihren Mann, der sich heute nicht nur abweisend, sondern verletzt gezeigt hatte. Auch wenn sie sich schon lange damit arrangiert hatte, dass ihre Ehe zur reinen Theater-Kulisse erstarrt war, spürte sie den Schmerz darüber heute wieder besonders deutlich. Von unten hörte sie, dass ihr Mann sich erneut ans Klavier gesetzt hatte. Früher hatte er ihr immer etwas vorgespielt, für sie improvisiert und mit ihr sogar Sex auf dem Flügel gehabt. Esther hatte sich schon lange verboten, an diese Zeiten zu denken. Die Wehmut und der Schmerz waren zu groß für sie. Nur in schwachen Momenten träumte sie sich in die Vergangenheit zurück.
Jetzt wollte sie nicht allein sein und rief ihren Begleiter aus dem Reich der Fantasie zu sich ins Bett. Sie wollte in den Arm genommen und gehalten werden. In ihrem Traum zwischen Wachen und Schlafen war sie wieder jung und begehrenswert. Der Mann, in dessen Arme sie sich so wohl fühlte, beugte sich zu ihr zum Kuss und sie sah ihm in die Augen. Esther schrak mit einem Mal aus ihrem wohligen Traumreich auf. Gerade hatte sie in die Augen Michaels geblickt. Sie setzte sich im Bett auf und schaltete das Licht an, um die Schattengestalt zu vertreiben. Aufrecht saß sie in ihrem Schlafzimmer - dem ehemaligen Gästezimmer - und sah sich um. Von unten drangen düstere Klavierakkorde zu ihr herauf.
Was ist nur aus mir geworden? Ausgestoßen aus dem Bett und dem Herzen meines Mannes bin ich. Wollte ich dieses Leben? Ist es überhaupt noch ein Leben? Was bin ich denn in diesem Haus? Gewiss war das hier nicht das Ziel meiner Träume, der Wunsch meiner schlaflosen Nächte. Ich exist iere nur noch durch seine Gnade, selbst das Klingelschild verrät meine Anwesenheit nicht! Gattin bin ich, nicht einmal mehr Geliebte. Ehefrau auf dem Papier und Statist für seine öffentlichen Huldigungen, mehr nicht. Reichen meine Wünsche nicht mehr weiter als bis zu meinen gut sortierten Kleider- und Küchenschränken und meinen adrett geharkten Blumenbeeten? Wie weit bin ich nur gesunken, dass ich nach seinen Blicken und Worten lechze wie der Verdurstende in der Wüste!
Meine letzte Würde habe ich gegeben für die schnöde Hoffnung, mehr zu erhaschen von dem, der mir einst versprach, mich zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod uns scheidet. Woche für Woche betrüge ich mich selbst, glaube an unsere Zukunft und hoffe , den Funken seiner Liebe und Lust neu zu entzünden. Einen fremden Mann lasse ich in mein Bett, damit wir zusammen nach dem Willen des großen W. ein Konzert der Lust abliefern! Dieses Trugbild ist nicht das wahre Leben, es ist der Abgrund, in den ich stürze!
Esther kamen die Tränen und sie rannen ihr über das Gesicht. Sie versuchte erst gar nicht, dem Strom der Verzweiflung Einhalt zu gebieten, sondern löschte das Licht und weinte sich in den Schlaf. Als die Tränen versiegten und ihr Körper nur noch in Abständen von einem Beben erschüttert wurde, breitete sich ein Gedanke in ihrem Kopf aus, der ihr den Trost gab, den sie so dringend suchte. Der Tod seiner Mutter, für die sie - die kinderlose Schwiegertochter - nie gut genug war, hatte ihren Mann
Weitere Kostenlose Bücher