Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
Grundlage der Probenarbeit war, erschöpfte sich heute Morgen allerdings darin, dass die Kantorei geschlossen antrat und niemand zu spät kam. Während der Proben stand es außer Frage, dass Gespräche zu unterbleiben hatten und niemand tanzte aus der Reihe. Dafür ging es in dem Haus der Kirche jetzt umso lebhafter zu. Es wurde gelacht und gescherzt; Gerda kannte das. Es war jedes Mal das Gleiche. Fast kamen ihr die Sänger vor wie pubertierende Halbwüchsige auf Klassenfahrt. Aber das gehörte nun einmal zu dem ganz besonderen Gefühl des Probenwochenendes dazu.
Gerda sah auf die Uhr, sie wollte den Terminplan nicht unnötig strapazieren und stieg kurzerhand auf ihren Stuhl und verschaffte sich Gehör. „Liebe Leute, die besten Zimmer mit Whirlpool und Minibar gibt es wie immer ganz zu Anfang. Ihr wisst ja, wer zu spät kommt, schläft im Beichtstuhl und muss Küchendienst machen.“ Die Schlüsselausgabe klappte jetzt wie am Schnürchen und jeder schaffte sein Gepäck aufs Zimmer.
Wellenstein übernachtete auch dieses Mal im Exerzitien -Haus. Den geselligen Abend nach getaner Arbeit hatte er sich auch früher nicht entgehen lassen. Das war die Zeit während der Probenwochenenden, wo man sich näher kommen konnte, wenn man wollte. Und Wellenstein wollte eigentlich immer. Gerade nahm er von Gerda als einer der letzten seinen Zimmerschlüssel in Empfang, als sein Bruder von hinten an ihn herantrat. „Na, Ha-Pe, hast du dieses Mal freiwillig den Beichtstuhl gewählt? Ist vielleicht gar nicht so schlecht, ein reines Gewissen ist schließlich das beste Ruhekissen. Aber du hast Recht, Minibar und Whirlpool verlieren auch irgendwann ihren Reiz. Nur die Musik ist noch die alte. Sie ist und bleibt unsere große Liebe. Wenigstens einer von uns beiden hat sie rumgekriegt.“
Wellenstein lächelte gequält und versuchte, die Spitze seines Bruders mit einem Scherz abzumildern. „Ich bin in Zimmer elf und hoffe doch stark, dass die Nonnen mir wie versprochen ein Wasserbett und eine Schampus-Bar eingebaut haben. Konntest du etwa keine Wünsche abgeben?“
Wellensteins Assistent mischte sich ein, bevor die Brüder in noch gefährlicheres Fahrwasser abdriften konnten und bot an, Wellensteins Gepäck m it nach oben zu nehmen. Sein Zimmer sei direkt nebenan. Wellenstein verabschiedete sich, um im Probenraum alles für das Einsingen vorzubereiten und sich ein wenig zu sammeln. Gerda händigte Ansgar Wellenstein den Schlüssel mit der Nummer dreizehn aus und fertigte dann die beiden letzten Chormitglieder ab. Als sie dabei war, ihre Liste an die Hausverwalterin zu übergeben, die gern wusste, welcher Gast in welchem Zimmer schlief, sah sie, dass Wellensteins Assistent bereits wieder herunterkam. Gerda überlegte noch kurz, warum die Zimmerverteilung für die Nonne von Interesse sein konnte, ließ den Gedanken aber sofort wieder fallen, denn einer Ordensfrau glaubte man einfach, dass es in Ordnung sei, was sie forderte. Nach und nach kamen die Sänger mit ihren Noten wieder nach unten und es konnte losgehen.
Gerda hatte die erste Probe genossen. Endlich konnte sie abschalten und an nichts anderes denken als an die Musik. Wellenstein hatte wie immer routiniert dirigiert . Dass er am Ende seiner Nerven war, merkte man ihm nicht an, dachte Gerda. Vorhin im Auto hatte Georg ihr noch erzählt, wie Wellenstein getobt hatte, als er bemerkte, dass seine Partitur nicht mehr auffindbar war. Was hatte Ansgar Wellenstein nur mit den gestohlenen Noten vor? Warum hatte er seinem Bruder die Partitur entwendet? Wollte er das Probenwochenende gefährden? Gerda wusste zwar, wer für die fehlenden Noten verantwortlich war, aber sie hatte geschwiegen. Was hätte es auch genutzt, wenn sie Georg von ihrer Beobachtung erzählt hätte? Die Noten waren weg und Wellensteins Bruder hätte bestimmt geleugnet, die Partitur entwendet zu haben.
Wellenstein hatte es seinen alten Chor nicht spüren lassen, dass er mit einem komplett neuen Notensatz ohne seine Anmerkungen und Notizen dirigieren musste. Er hatte die Musik und seine Interpretation des Werkes bereits so verinnerlicht, dass er wahrscheinlich im Schlaf hätte dirigieren können. Die Probe verlief ohne besondere Vorkommnisse.
Alles war wie immer und so war nach der Probe der Gang zum Speisesaal das Highlight des Tages. Die Nonnen kochten vorzüglich und sorgten regelmäßig für begeisterte Gäste, die angesichts der kulinarischen Köstlichkeiten sofort bereit gewesen wären, in den Orden
Weitere Kostenlose Bücher