Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
Schicksal des Apothekers egal sei, jetzt, wo das Thema schon einmal auf dem Tisch lag. Die Kundinnen schätzten an der Friseur-Meisterin, dass sie sich geduldig ihre Probleme anhörte, die sie mit in den Salon brachten. Mit der Chefin konnte man über alles sprechen und über vieles auch gemeinsam schweigen. Und Gerda war stolz darauf, dass sie ihre Kundinnen nicht nur mit einem verschönerten Äußeren verabschiedete, sondern dass die Damen den Salon in gewisser Weise auch geläutert verließen, weil ihnen die eigenen Probleme bei weitem nicht mehr so groß vorkamen wie zu Beginn ihres Friseurbesuchs.
„Liebe Frau Wellenstein. Ich kann so gut nachfühlen, was Sie sagen. Auch ich liebe den Chor und die Musik wirklich sehr. Aber könnte es nicht sein, dass es für Ihren Mann besser wäre, wenn er sich ein anderes Hobby suchen würde? Eines, das ihm nicht so schadet?“
Gerdas Kundin konnte jetzt nicht mehr an sich halten. „Das einzige, was meinem Mann wirklich schadet, das ist sein Bruder. Er war es doch, der Ansgar angetrieben hat, immer weiter zu singen, obwohl seine Stimme längst eine Pause gebraucht hätte, damals bei der Abi-Feier. Wissen Sie wie das ist, wenn man mit jemandem zusammenlebt, der nicht aufhören kann, an seinen unerfüllten Traum, eine Gesangskarriere, zu denken? Bei uns ist der Traum von der Musik zu einem Trauma geworden. Und darunter leidet die ganze Familie, nicht nur mein Mann. Er wird bemitleidet, sein Schicksal kennt man hier in Bärlingen. Aber was ist mit uns, seiner Frau und seinen Kindern? Hat uns mal jemand danach gefragt, wie es uns geht?“ Die Frau des Apothekers hatte sich in Rage geredet und Gerda war froh, dass es im Salon bereits ziemlich leer war.
„Da haben Sie Recht. Ich weiß nicht , wie es sich mit so einer Wunde lebt. Aber ich kann mir vorstellen, dass es für alle Beteiligten furchtbar sein muss. Allerdings finde ich, dass man auch irgendwann einmal einen Schlussstrich unter alte Geschichten und Verletzungen ziehen muss. Das Leben geht weiter und Menschen entwickeln sich. Ihr Schwager ist auch nicht mehr der Gleiche, der damals für die Stimm-Katastrophe ihres Mannes verantwortlich war.“
„Ach, Frau König. Sie glauben wirklich an das Gute im Menschen. Das ehrt Sie, wirklich , und macht Sie auch so sympathisch. Aber mein Schwager ist anders. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich kenne Hans-Peter schon lange genug. Er war, ist und bleibt ein Opportunist wie er im Buche steht. Er benutzt die Menschen und es ist ihm sogar egal, ob diese merken, dass er sie lenkt. Wenn ihm jemand nicht mehr von Nutzen ist, dann lässt er ihn fallen. Ich weiß, Sie haben bestimmt ein ganz anderes Bild von dem großartigen Dirigenten. Aber denken Sie einmal nach, ob Sie diese Seite meines Schwagers nicht doch schon einmal kennengelernt haben. Er gibt sich nämlich keine große Mühe sich zu verstellen. Das hat der große Wellenstein nämlich auch nicht nötig. Aber jetzt ist eh alles egal, mein Mann kann das Konzert sowieso nicht mitsingen, seine Stimme hat sich immer noch nicht richtig erholt.“
Zum Glück musste die Farbe, die Gerda bei ihrer Kundin aufgetragen hatte, jetzt einwirken und sie konnte das Gespräch abbrechen. Es war ihr in ihrem Berufsleben noch nicht oft passiert, dass sie froh war, die Unterhaltung mit einer Kundin zu beenden. Bevor sie Frau Wellenstein die Trockenhaube anstellte, bot sie an, ihr noch etwas zum Lesen zu holen.
„Ja, bringen Sie mir doch bitte ein paar Frauenmagazine. Gern etwas Anspruchsvolleres mit mehr Text und weniger Bildern.“
„Gern, ich hole Ihnen gleich ein paar Zeitschriften.“ Gerda legte ihrer Kundin eine Auswahl an Lesezirkel-Heften vor und stellte den Wecker für die Einwirkzeit der Haarfarbe, bevor sie die Vorhänge des Separees zuzog und aufatmete. Den Feierabend schien sie sich heute wirklich schwer verdienen zu müssen. Sie konnte es noch immer nicht glauben, was ihr Frau Wellenstein eben erzählt hatte. Dass der Apotheker seine Stimme am Wochenende über Gebühr beansprucht hatte, war nichts Neues für sie. Allerdings hätte sie nie damit gerechnet, dass diese Heiserkeit ihn daran hindern könnte, das Konzert morgen mitzusingen. Es musste schwer sein, wenn man tatenlos zusehen musste, wie der eigene Mann litt und über dem Verlust der Musik depressiv wurde.
Ob Hans-Peter Wellenstein wirklich eine Chance gehabt hatte, die Vorwürfe seines Bruders aus der Welt zu schaffen, konnte Gerda nicht beurteilen. Und sie
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