Todesgarten
Zeugen, keine Beweise. Was auch immer. Nur
ein Bruchteil der Gewalt wird auch vor Gericht verhandelt. AuÃerdem weià ich, wie
es um das Umfeld der Täter bestellt ist. Oft haben die Leute drumherum
überhaupt keine Ahnung, mit wem sie es da eigentlich zu tun haben. Man sieht es
den Tätern nicht an.«
Tom schien fassungslos. Anna durfte ihn nicht schonen.
Sie wollte es nicht. Sie musste jetzt alles sagen.
»Was wäre zum Beispiel«, fuhr sie fort, »wenn dir
einer erzählen würde, dein Freund habe sexuelle Ãbergriffe gegen Jugendliche zu
verantworten? Wie würdest du da reagieren? Ungläubig, oder? Aber es gibt keinen
Zweifel. Es steht in allen Zeitungen. Und ich weià natürlich, auch das ist ein
Vergehen, wo oftmals nur die Spitze des Eisbergs zu sehen ist. Wie bei den
Gewaltdelikten. Das meiste liegt im Verborgenen. Da gibt es genauso selten Anzeigen
oder gar Gerichtsakten.«
»Das ⦠hast du geglaubt?«
Seine Stimme klang verletzt.
Sie durfte sich nicht irritieren lassen. Ja nicht ins
Stocken geraten. Wenn sie jetzt aufhörte, würde sie die Sache nie zu Ende
bringen.
Trotzdem. Da war eine Stimme, die sich plötzlich bemerkbar
machte. Was, wenn es eine Lüge ist? Wenn diese Jungen sich nicht gewehrt,
sondern angegriffen haben? Und später der Polizei etwas ganz anderes erzählt
haben? Einer Polizei, die natürlich zwei Jungen mehr Glauben schenkt als einem
erwachsenen Schwulen. Was, wenn gar nicht stimmt, was in den Zeitungen steht?
Die plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Es
war wie der Blick auf ein Vexierbild. Striche und Linien blieben gleich, nichts
veränderte sich, und trotzdem ergab alles plötzlich einen anderen Sinn, eine
ganz andere Figur tauchte auf. War sie erst einmal da, wunderte man sich, dass
man sie nicht schon längst gesehen hatte.
Opferverhalten. Davon hatte sie auf der Polizeischule
gehört. Menschen, die nach einer Gewalttat nicht in ihr altes Leben
zurückfanden. Die Gewalt löste bei ihnen ein Trauma aus. Dazu kamen die
Schuldgefühle. Angstzustände. Wutausbrüche. Manche brachen alte Kontakte ab und
fingen ein neues Leben an. Anna schauderte. Was war richtig, was war falsch?
Saà sie einem Irrtum auf?
»Ich habe über diese Dinge nachgedacht«, sagte sie.
»Und ich habe zwei Fragen, die ich dir stellen will. Es hat einen schlimmen
Streit gegeben zwischen Daniel und Peter. Ich weià nicht, worum es in diesem
Streit ging, aber es muss etwas mit Drogen zu tun gehabt haben. Peter hat ihm
gedroht, und alle dachten, es würde etwas passieren. Ich frage mich: War diese
Sache so ernst, dass Peter bereit gewesen wäre, ihn umzubringen? Allerdings war
Peter bei der Razzia anwesend, von Anfang an. Er kann nicht gleichzeitig im
Tiergarten gewesen sein, um Daniel zu erschlagen. Also muss er jemanden
beauftragt haben. Und damit komme ich zu meiner zweiten Frage: Wen kann er
dafür beauftragt haben? Viele kommen da nicht infrage.«
Jetzt war es raus. Sie hatte alles gesagt. Fast fühlte
sie sich erleichtert.
Seine Stimme schien fremd, als käme sie von weit her.
»Du glaubst, ich hätte Daniel umgebracht?«
Er sah sie an wie eine Fremde. Der Wutausbruch kam
ohne Vorwarnung.
»Ich bin ein Mörder? Ein Kinderficker? Ein Monster?«
Mit voller Kraft trat er gegen die Bierkästen. Sie donnerten gegen die Wand,
Flaschen schepperten gegeneinander, der Turm wankte bedrohlich.
»Das denkst du von mir?« Er schrie jetzt. »Daniel war
unser Kollege! Er war einer von uns! Verstehst du das? WeiÃt du überhaupt, was
es heiÃt, dazuzugehören?«
Wieder trat er gegen die Kästen. Jetzt zerbrachen Flaschen,
Scherben klirrten im Turm. Am Boden bildete sich eine Pfütze. Im nächsten
Moment wirkte Tom unendlich erschöpft. Als hätte der Wutausbruch seine gesamte
Kraft aufgezehrt.
»Er war einer von uns. Peter hätte niemals was gegen
Daniel unternommen. Er hätte tausend andere Möglichkeiten gehabt. Daniel wollte
zur Polizei, na gut, aber das ist doch kein Grund, so etwas Schreckliches zu
tun. Seine beschissenen Drogen kann Peter jederzeit verschwinden lassen.
Natürlich war er auch sauer auf Daniel. Aber er muss doch wegen so einem ScheiÃ
keinen ermorden, schon gar nicht, wenn es einer von uns ist.«
Er war nicht schuldig. Er hatte nichts mit dem Mord zu
tun. Sie hatte sich geirrt. Ein Gefühl von Hilflosigkeit legte sich
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