Todesgarten
umsonst gekommen. Offenbar
wurde hier gearbeitet, obwohl Samstag war.
Er klingelte. Eine Gestalt tauchte hinter den Fensterchen
auf. Es war Frau Dr. Freythal. Erleichtert atmete Michael auf. Er kannte sie
seit seinem ersten Tag bei der Mordkommission. Eine schlanke, ältere Dame, die
trotz jahrzehntelanger Arbeit in der Rechtsmedizin weder zynisch noch kalt
geworden war. Für ihn war sie fast so etwas wie eine Vertraute. Zumindest war
er bei ihr sicher, dass sie keine unangenehmen Fragen stellen würde.
»Herr Schöne!« Sie strahlte ihn mit ihren wasserblauen
Augen an. »Was für eine seltene Ehre!«
»Ich fühle mich bei Sektionen eben sehr unwohl. Deswegen
drücke ich mich meistens davor.«
Sie lachte. »Alle würden sich gern davor drücken,
glauben Sie mir. Aber Sie sind der Einzige, den es nicht stört, wenn hinter
seinem Rücken darüber gelästert wird.«
Sie zog die Tür weit auf. »Kommen Sie herein. Sie haben
Glück, mich hier anzutreffen. Ich bin dabei, im Büro klar Schiff zu machen.
Lange bleibe ich nicht mehr.«
Sie führte ihn zu den Sektionssälen im ersten Stock. Eine
moderne Glastür trennte das hölzerne Treppenhaus vom Sektionsflur. Die Tür
öffnete sich automatisch.
»Ich nehme an, Sie kommen wegen Daniel Treczok?«
Wieso fragte sie das? Michael dachte an Anke und
Lohmann, die er an der Kreuzung gesehen hatte. Bedeutete das alles etwa, dass
der Fall doch noch nicht abgeschlossen war?
»Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie noch Fragen dazu
haben«, sagte sie.
»Ich war mir nicht sicher, ob die Leiche noch hier ist.
Der Leichnam wurde für heute freigegeben, oder?«
»Stimmt. Er wird aber erst am Montagmorgen abgeholt
und ins Krematorium nach Treptow gebracht.«
Sie führte ihn an den Sektionssälen vorbei zu ihrem Büro.
»Waren Sie schon einmal dort?«, fragte sie. »Die reinste
High-Tech-Anlage. Alles digitalisiert. Da kriegt jede Leiche einen Nummerncode,
und der Rest wird maschinell erledigt. Wie bei der ProduktionsstraÃe in einer
Autofabrik. Wirklich seltsam ist das.«
Er warf einen Blick in einen Sektionssaal, dessen Tür
offen stand. Alles war blank gescheuert, trotzdem konnte er neben den Putz- und
Desinfektionsmitteln den vertrauten Leichengeruch wahrnehmen. Aber vielleicht
bildete er sich das auch nur ein.
»Könnte ich mir den Leichnam von Daniel Treczok ansehen?«
»Sie wollen die Leiche sehen?« Sie sah sich verwundert
um, ging aber in unvermindertem Tempo weiter. »Also gut. Kommen Sie.«
Sie führte Michael zu einer weiteren Tür am Ende des
Flurs. Dahinter lag ein dunkler, fensterloser Raum. Sie betätigte einen Schalter,
woraufhin Leuchtstoffröhren aufflackerten. Das leise Surren der Kühlanlage war
zu hören. Die Luft war trocken und abgestanden. Am liebsten hätte er sofort
wieder kehrtgemacht.
Dr. Freythal schob eine Bahre zur Seite, wandte sich
den Schubladen zu und überblickte die angebrachten Schildchen.
»Ich werde dem Bericht nicht viel hinzufügen können«,
sagte sie. »Der Fall war ja recht eindeutig. Ich weià also nicht, ob ich Ihnen
weiterhelfen kann. Ah, hier ist er.«
Mit einem Ruck zog sie eine der Laden auf. Michael
vergaà zu atmen. Die Lade glitt blitzschnell auf und rastete in der Halterung
ein. Der Leichnam lag direkt vor ihm. Ein groÃer Mann, schlank und kräftig
gebaut. Da waren die groben Narben der Obduktion, aber sonst war seine Haut
makellos. Es war Daniel. Da gab es keinen Zweifel.
»Eine Schande, so ein schöner Mann«, sagte sie. »Und
er war erst sechsundzwanzig. Ein echter Verlust.«
Michael trat einen Schritt vor. Daniel war so stark gewesen.
Und viel gröÃer als Michael, bestimmt zehn Zentimeter. Und doch hatte er sich
nicht wehren können. Es war wie immer gewesen.
»Hatte er groÃe Schmerzen?«
Sie sah überrascht auf. »Nein, er hat nicht gelitten.
Gleich der erste Schlag hat den Schädelbruch verursacht. Es war ein direkter
Impressionsbruch oberhalb der linken Schläfe. Wahrscheinlich war er nicht
sofort tot. Aber der Schlag hat ihn in eine tiefe Bewusstlosigkeit versetzt. Er
hat nichts gespürt.«
»Das ist gut.«
Michael betrachtete den Toten. Dr. Freythal wartete
schweigend.
»Was möchten Sie denn wissen?«, fragte sie schlieÃlich.
»Gab es Unklarheiten im Bericht?«
Widerwillig sah er auf. »Es
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