Todesgarten
doch
jetzt sackte er in einen Traum ab. Ãber seinem Kopf baute sich eine fremde Welt
zusammen, die aussah wie das riesige Schiff einer Kathedrale. Es waren Bäume.
Ein Winterwald. Dürre Ãste in der Luft. Ãberall lag Schnee. Es war kalt und
frostig, sein Atem bildete Dunstwolken.
Er blickte sich um. Das war nicht mehr sein Zimmer. Er
lag irgendwo im Wald auf einer Schneedecke. Wie war er hierhergelangt? Krähen
flatterten in den Himmel, ihr Krächzen hallte zwischen den Bäumen hervor. Ãber
den kahlen Wipfeln entdeckte er die goldene Siegesgöttin. Jetzt wusste er, wo
er war. Im Tiergarten. Er blinzelte. Die Statue hatte den Blick abgewandt. Sie
wirkte kalt und starr.
Eine einzelne Stimme drang zu ihm durch. Jemand war in
seinem Zimmer. Er bekam Angst. Spürte, wie der andere an sein Bett trat und
sich auf die Kante setzte. Michael öffnete die Augen. Es war Daniel. Sein
Bruder. Ihm blieb die Luft weg. Seine Gedanken rasten. Daniel war tatsächlich
hierhergekommen. Endlich.
Da war eine Frage, die er als Allererstes stellen
musste. »Was ist im Tiergarten passiert? Wer hat dir das angetan?« Die Antwort
war ihm unendlich wichtig. »Du musst es mir sagen. Ich werde ihn bestrafen,
hörst du? Das schwöre ich dir, ich werde ihn bestrafen.«
Erst da merkte er es: Ihm war kein einziges Wort über
die Lippen gekommen. Er konnte sich nämlich nicht bewegen. Sein Körper war
gelähmt. Er lag reglos auf dem Bett. Stumm und mit starrem Blick.
Daniel schien nichts zu bemerken. Er saà einfach da,
mit traurigen Augen, und strich ihm mit der Hand übers Gesicht. »Wach auf,
Michael! Du bist noch nicht tot, hörst du? Vielleicht denkst du das ja, aber es
ist nur das Koma. Du bist nicht tot. Wach doch bitte auf, ich habe es auch
getan. Es ist ganz einfach.«
Michael versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Ein
Blinzeln oder ein Zwinkern. Aber es gelang ihm nicht, er blieb starr und reglos
liegen.
Daniel stand auf, lächelte zum Abschied und verlieÃ
das Zimmer. Er war bereits hinter der Tür verschwunden, als er noch etwas
sagte. Aber dann begriff Michael, das war gar nicht Daniel. Es war eine der
Stimmen aus dem Fernseher, so leise, dass er kaum ein Wort verstehen konnte. Er
dachte noch darüber nach, was er da eigentlich gerade geträumt hatte, als er
kurz darauf in einen tiefen und traumlosen Schlaf hinabglitt.
Als das Telefon Michael eine Weile später unsanft aus
dem Schlaf riss und Anna Proschinski sich am anderen Ende meldete, hatte er den
seltsamen Traum, in dem Daniel an sein Bett getreten war, längst vergessen.
Daniel war acht Jahre alt gewesen und Michael elf. Es
war kurz vor dem Tag, an dem sich ihr ganzes Leben verändern würde. Aber sie
ahnten nichts davon. Das Unglück war nicht absehbar.
Fahrendes Volk war in die Stadt gekommen. Sie bauten Buden
auf und Karusselle. Ein Rummel wurde errichtet. Michael und Daniel konnten von
ihrem Zimmerfenster aus das Riesenrad sehen. Auch Musik war leise zu hören, und
der Duft von gerösteten Mandeln wehte zu ihnen herein.
Es war Daniels Idee gewesen. Und dieses Mal hatte
Michael sich nicht verwehrt. Hatte einfach mitgemacht, ganz entgegen seiner
üblichen Vorsicht. Der Vater hätte es ihnen niemals erlaubt, auf den Rummel zu
gehen. Also schlichen sie ins Schlafzimmer der Eltern, nahmen ein paar
Geldscheine aus Vaters Brieftasche, tapsten auf Socken am Wohnzimmer vorbei, wo
der Fernseher lief, und sobald sie drauÃen in der Freiheit waren, rannten sie
so schnell sie nur konnten.
Es war ein Riesenspaà gewesen. Den Vater und seine
Verbote hatten sie einfach vergessen. Denn an diesem unerhörten und
märchenhaften Nachmittag erlebten sie mehr, als es für einen einzelnen Menschen
überhaupt nur möglich erschien. Sie bestanden so viele Abenteuer, sahen so viel
Seltsames und Gefährliches, und nicht ein einziges Mal verspürten sie Angst dabei.
Nur Aufregung. Ganz allein fuhren sie mit dem Karussell, und zwar mit dem, das
über Kopf ging. An der SchieÃbude schossen sie auf Rosen, sogar Daniel, der so
klein war, dass er das Gewehr kaum halten konnte. Sie kauften mehr Zuckerwatte,
als sie überhaupt essen konnten. Und die ganze Welt schien aus bunten Lichtern
zu bestehen, aus Musik und Tanz und SüÃigkeiten. Sie blieben auf den Rummel,
bis es dunkel wurde und die Buden schlossen. SchlieÃlich jagten die
Schausteller sie vom Platz. Erst da waren sie
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