Todesgott
Und die armen Jungs, die glaubten, eine ungleichmäßig behaarte, nicht ganz saubere Pospalte über dem Hosenbund sei cool – wie ist das nur möglich? Ist denn alles möglich?, denke ich und blase den Rauch ins Blaue.
Dann denke ich über meine Neigung nach, mich ständig mit dem Ressortleiter anzulegen. Nachdem Ásbjörn endlich mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass er für diesen Job ungeeignet ist, und wir uns mit unseren neuen Rollen angefreundet haben, wird ein neuer, wesentlich schlimmerer Lackaffe eingestellt, und sofort fange ich an, mich mit ihm zu streiten. Wie ist das möglich? Glaube ich etwa, diesen Job viel besser machen zu können als jeder, der ihn innehat? Und wenn er mir dann angeboten wird, lehne ich ab?
Ja, alles ist möglich.
Ich würde mich selbst auch nicht gern als Untergebenen haben. Vielleicht kann ich einfach das Wort »Untergebener« nicht ausstehen. Mitarbeiter wäre das richtige Wort.
Würde ich mich selbst gern als Chef haben? Auf keinen Fall. Ich würde mich sofort mit mir selbst anlegen.
In diesem Moment geht ein junger Mann vorbei, der genauso wenig in Sommerlaune zu sein scheint wie beim letzten Mal, als wir uns getroffen haben. Rúnar Valgarðsson trägt denselben schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte, den er auch beim Begräbnis seines Bruders anhatte. Sein langes Haar flattert im sanften Wind, während er darauf wartet, dass der Autostrom abreißt, damit er die Straße überqueren kann.
Ich stehe auf und schlendere zu ihm.
»Rúnar, grüß dich. Erinnerst du dich an mich?«
Er zuckt zusammen. »Was? Äh, ja«, antwortet er und schaut mich mit einem Auge an, während das andere auf den frischpolierten Autokorso achtet.
»Ich wollte dich sowieso demnächst anrufen. Wollte ein paar Tage nach der Beerdigung deines Bruders verstreichen lassen. Hast du vielleicht jetzt Zeit?«
»Nein, tut mir leid«, sagt er mit hängendem Kopf.
»Ach, schade.«
Er schweigt.
»Du bist bestimmt auf dem Weg in die Schule«, sage ich, obwohl seine Kleidung nicht danach aussieht.
»Nein. Ich kann jetzt einfach nicht mit dir sprechen.« Er ist nicht unfreundlich, wirkt aber ein bisschen gestresst.
»Wann können wir uns denn mal treffen?«
»Ich weiß nicht.«
»Was hältst du von Sonntag? Da ist keine Schule und so.«
»Okay. Ruf mich am Sonntag an.«
»Ach, hör mal, ich hab überlegt, wer wohl Skarphéðinns längster und bester Freund war. Dein Bruder hatte natürlich eine große Clique und war sehr beliebt, aber wer war sein engster Freund?«
Er möchte offensichtlich die Straße überqueren, aber als er gerade losgehen will, kommt mir ein Auto zu Hilfe.
»Ich meine, außer dir natürlich. Ihr standet euch doch sehr nahe, oder?«
Er nickt. »Am ehesten Gunnar.«
»Wo wohnt der?«
»In Reyðargerði. Ist vor einem Jahr dahin gezogen.«
»Aha. Wessen Sohn ist er?«
»Njálsson.«
»Gunnar Njálsson. Vielen Dank.«
In diesem Moment entsteht ein Loch in der Autoschlange. »Du siehst so aus, als würdest du zu einer Party gehen. Ist das nicht ein bisschen früh, auch wenn heute Freitag ist?«
Rúnar setzt sich in Bewegung und wirkt sehr erleichtert. »Ich gehe nicht zu einer Party«, murmelt er, so dass ich ihn gerade noch verstehen kann, »ich gehe zu einer Beerdigung.«
Zu einer Beerdigung?, denke ich, als ich mich wieder an meinen Tisch auf dem Gehsteig gesetzt habe. Hat er das ernst gemeint? Oder trauert er immer noch um seinen Bruder?
Ich winke dem Kellner, bestelle noch einen Cappuccino und frage, ob der
Morgenbote
hier ausliegt.
Nach ein paar Minuten habe ich eine neue Tasse vor mir auf dem Tisch, eine Zigarette im Mundwinkel und den
Morgenboten
in der Hand. Ich schlage die Todesanzeigen und Nachrufe auf.
Nur ein einziger Zeitgenosse fühlte sich bemüßigt, Sólrún Bjarkadóttir zu gedenken, der Gymnasiastin, die sich am Anfang über die Frage, wo die Post abgeht, lustig machte und sich am Ende das Leben nahm. Ich muss mir beschämt eingestehen, dass ich dieses unglückliche Mädchen schlicht vergessen hatte.
Erkenntnis und Unschuld sind unvereinbar, sagte ein weiser Mann.
Liebe Sólrún, ich weiß, dass es dir, wie vielen anderen, schwerfiel, eine schmerzhafte Lebenserfahrung zu verarbeiten. Sie war unvereinbar mit der dir innewohnenden Unschuld und deinem Glauben an das Gute.
Sólrún, du warst kein starker Mensch, der den Versuchungen, die das Leben manchmal erträglicher machen, hätte widerstehen können. Aber du warst stärker
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