Todesgott
als viele andere, wenn es um das wesentliche Ziel im Leben ging, anderen etwas zu geben, andere zu erfreuen, zu ermutigen. Und dann kam der Tag, an dem du nichts mehr geben konntest. Nicht, weil du nichts mehr zu geben hattest, sondern weil deine Gaben missverstanden und missbraucht wurden.
Obwohl die Erkenntnis über das Wesen der Menschen, die dich das Leben lehrte, am Ende deine Kräfte überstieg, ist dein Platz in meinem Herzen erfüllt von Freude und Dankbarkeit, dich gekannt zu haben, Dankbarkeit, dass ich dich kennenlernen durfte. An diesem Herzort wirst du immer sein, bis in alle Ewigkeit. Die Erinnerung an dich gibt mir Kraft und Zuversicht.
R.
Obwohl die Vermutung naheliegt, dass der Verfasser des Nachrufs Rúnar Valgarðsson ist, mahne ich mich selbst, dass das nicht unbedingt stimmen muss. Es kann auch eine Verfasserin sein, eine Freundin, vielleicht eines der Mädchen, die damals bei der Alberei auf dem Rathausplatz dabei waren. Oder vielleicht eine ganz andere Person.
Im Vergleich zu der Fülle an Nachrufen auf Skarphéðinn wirkt dieser Abschiedsgruß trotz seiner Schönheit traurig und hilflos. Was sagt das über das Leben Sólrún Bjarkadóttirs aus?
Trotz des Sonnenscheins, des Frühlingsdufts und der Wochenendstimmung in der Innenstadt bin ich wieder deprimiert. Ich nehme mein Handy, suche die Nummer des Gymnasiums und frage nach dem Lehrer Kjartan Arnarson.
»Der ist nicht im Haus und kommt heute auch nicht mehr. Er ist bei einer Beerdigung«, erklärt die Sekretärin.
»Ach ja. Ist heute wegen des Begräbnisses von Sólrún Bjarkadóttir schulfrei?«
»Nein, nur für ihre eigene Klasse«, lautet die Antwort. »Wir stehen so kurz vor den Prüfungen, dass wir nicht allen freigeben konnten.«
Ich bedanke mich, lese im
Morgenboten
, dass die Beerdigung um halb zwei begonnen hat, und mache mich auf den Weg.
Nach dem Aufstieg über die Himmelsleiter zur Kirche von Akureyri bin ich ganz außer Atem; unauffällig schlüpfe ich durch die Kirchentür. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch in dem Gotteshaus gibt es diesmal noch viele freie Plätze. Nur etwa ein Viertel der Kirche ist besetzt. Die Gäste sitzen verstreut auf den Bänken. Von meinem Standpunkt an der Tür sehe ich Rúnar Valgarðsson allein, drei Reihen vor mir sitzen. Er weint. Plötzlich fühle ich mich unwohl, fast eingesperrt, und schleiche mich durch die Kirchentür zurück nach draußen.
Als ich gedankenverloren die Himmelsleiter hinuntersteige, sehe ich Snúlli auf dem Hügel hinter einem Ball herlaufen. Er erreicht den Ball, nimmt ihn ins Maul und rennt zu einem jungen Mädchen, das ihn mit Streicheleinheiten begrüßt. Snúlli überlässt Ásbjörg Sigrúnardóttir würdevoll und stolz seine Beute.
Bei diesem Anblick wird mir wieder leichter ums Herz.
Der Papa von Ásbjörg und Snúlli sitzt in unserer Filiale am Empfang und plaudert bei einer Tasse Kaffee mit einem Besucher. Ásbjörn sieht ein bisschen besser aus als in den letzten Tagen; der Besucher ist noch genauso gestriegelt und geschniegelt wie beim letzten Mal.
»Ah, da kommt ja unser Mann«, sagt Ásbjörn, steht auf, trottet in sein Büro und schließt die Tür hinter sich.
Ásgeir Eyvindarson erhebt sich und begrüßt mich herzlich.
»Ich wollte mal fragen, ob du mir zeigen kannst, wie der Artikel für die morgige Ausgabe in Druckform aussieht.«
»Das ist aber ziemlich ungewöhnlich«, erwidere ich, »unsere Interviewpartner verfolgen normalerweise nicht jeden einzelnen Produktionsschritt.«
»Kann schon sein«, sagt er höflich und fügt lächelnd hinzu: »Aber Regeln sind dazu da, um gebrochen zu werden. Soweit ich weiß, bist du diesbezüglich nicht ganz unerfahren.«
Was hat Ásbjörn ihm bloß erzählt?, denke ich. Bin mir jedoch im Klaren darüber, dass es in Anbetracht unserer Vorgeschichte nicht schadet, mich mit Ásgeir gutzustellen.
»Na gut, okay. Dann folge mir bitte in die Herstellungsabteilung.«
Ich biete Ásgeir einen Stuhl in meinem Schrank an, fahre den Computer hoch, öffne den Satzordner und rufe die Seiten auf.
REALE EINBILDUNG ?
lautet meine Überschrift für den Artikel. Über dem Interview mit Ásgeir steht:
NUR SIE WUSSTE , WIE ES IHR GING
»Bitte sehr«, sage ich.
Er setzt seine Brille auf, starrt auf den Bildschirm und streicht unaufhörlich über seinen grauen Oberlippenbart.
Ich weiß nicht, warum, aber im Laufe der Jahre habe ich mir angewöhnt, vor Männern mit Oberlippenbart auf der Hut zu
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