Todesgott
abwechselnd gefahren, waren aber letzte Nacht erst um kurz vor zwei zurück in der Stadt. Jóa liegt bestimmt noch zu Hause im Bett und schlummert.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist Mittag, kurz vor eins. »Entschuldige, Ásbjörn. Kannst du das noch mal wiederholen?«
»Unser kleiner Snúlli ist verschwunden!«
Noch nie zuvor habe ich ihn so aufgelöst gesehen. Mir ist zum Lachen zumute, aber das kostet zu viel Anstrengung. Stattdessen sage ich: »Tut mir leid. Was ist denn passiert?«
Ásbjörn geht, soweit es der Platz im Zimmer erlaubt, auf und ab. »Karólína ist heute Morgen wie üblich mit ihm rausgegangen und hat ihn auf dem Hügel vor der Kirche von der Leine gelassen. Das hat sie, seit wir hier sind, jeden Tag gemacht, und es war kein Problem. Snúlli ist so erzogen, dass er weiß, was er darf und was nicht. Er kommt immer zurück und hört, wenn man ihn ruft. Aber heute …«
Er zieht ein gepunktetes Taschentuch hervor und schneuzt sich.
»Was war heute?«, frage ich.
»Eine Frau ist auf Karólína zugekommen und hat sie nach dem Weg gefragt. Als sie weitergegangen war und meine Frau sich nach Snúlli umgeschaut hat, war er weg. Wie in Luft aufgelöst. Verschwunden.«
Ásbjörn wiederholt sich, so als würde er seinen eigenen Worten nicht glauben.
»Sie hat gerufen und gerufen und gesucht und gesucht …«
»Und Snúlli war einfach verschwunden? In Luft aufgelöst?«, sage ich.
Er schüttelt lange den Kopf. »Vielleicht findest du das lächerlich, Einar. Aber für Karólína und mich ist es nicht lächerlich. Für uns nicht.«
Ich stehe auf und lege ihm den Arm um die Schulter. »Nein. Mir ist schon klar, dass das ein Schock für euch ist. Vielleicht hat jemand Snúlli gefunden und ihn bei der Polizei abgegeben.«
Er scheint mir überhaupt nicht zuzuhören. »Wir sind schon durch die ganze Stadt gelaufen und durch die Vororte gefahren, und es ist, als ob … als ob …«
»Als ob er vom Erdboden verschluckt wäre?«
Er schaut mich bekümmert an.
»Ásbjörn, ich sag’s noch mal, hör mir zu: Was ist mit der Polizei? Hast du mit denen gesprochen?«
»Ja, ich hab einen guten alten Freund bei der Polizei, und der hat sich schon umgehört. Aber es hat sich niemand gemeldet. Er hat sogar seine Kompetenzen überschritten und die Streifenpolizisten gebeten, die Augen offen zu halten. Aber nichts …«
»Jetzt warte mal. Wann ist das denn passiert?«
»Heute Morgen um neun.«
»Aber das sind doch erst vier Stunden! Ihr müsst ein bisschen Geduld haben. Der Hund taucht bestimmt wieder auf.«
»Du verstehst das nicht, Einar. Snúlli ist kein normaler Hund. Er reagiert sehr sensibel auf Veränderungen, neue Leute, neue Orte …«
Nicht nur der Hund, denke ich und überlege, was ich als Nächstes sagen soll.
Ich bugsiere Ásbjörn in die kleine Küche und schenke uns beiden schwarze, ungesüßte Brühe ein. Eine Weile stehen wir schweigend da und schlürfen unseren Kaffee.
»Wo ist Karólína?«, frage ich dann.
»Draußen und sucht ihn. Sie ist total fertig. Ich weiß nicht … sie könnte … ich weiß auch nicht.« Er schüttelt immer noch den Kopf in der Hoffnung, dass sich das Rätsel dadurch lösen würde.
»Hat Snúlli eure Adresse und Telefonnummer um den Hals?«
»Da steht noch die alte Reykjavíker Adresse drauf. Bei dem ganzen Umzugsstress haben wir vergessen, es zu ändern.«
»Kann ich irgendwas tun?«, frage ich behutsam.
Er zögert, nimmt dann aber seinen ganzen Mut zusammen. »Würdest du in der nächsten Ausgabe ein kurzes Interview mit Karólína und ein Bild von Snúlli abdrucken? Vielleicht erkennt ihn ja jemand auf dem Foto.«
Ich bin sprachlos.
»Dann würde es ihr bestimmt sofort viel bessergehen«, fügt er hinzu und schaut mich beschämt, aber gleichzeitig flehend an.
»Tja, das gehört nicht gerade zu meinen üblichen Meldungen. Das weißt du doch, Ásbjörn.«
Er schaut zu Boden. »Natürlich weiß ich das. Aber ich dachte, du könntest es in irgendeine Rubrik stecken. Menschliche Schicksale. Irgendwo im Innenteil.«
Ich denke nach. »Entlaufener Hund« wäre ein guter Name für eine Band, aber keine gute Schlagzeile in einer Tageszeitung. Dann habe ich eine Idee.
»Man könnte Snúlli vielleicht mit etwas anderem in Zusammenhang bringen: Umzug in eine neue Umgebung und Desorientierung. Snúlli ist im Grunde ein Immigrant in Akureyri, so wie wir. Und wie die Ausländer in Reyðargerði …«
Ásbjörn reißt jubelnd die Arme in die Höhe und grinst
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