Todesgott
Beweise?«
»Die Beweise?«, fragt sie empört. »Soll ich jetzt etwa Beweise sammeln? Eine alte Frau, die im Heim eingesperrt ist?«
»Dann eben Anhaltspunkte. Welche Anhaltspunkte hast du?«
Gunnhildur legt ihre fleckigbraune, runzlige Hand auf mein Knie. »Könnte es ein Anhaltspunkt sein, dass Dísabjörk nicht mit auf diese verdammte Abenteuerfahrt wollte?«, flüstert sie. »Dass Geiri und sie sich nicht einig waren über die Führung der Firma? Dass er zum Festessen im Fiðlarinn erschienen ist, während seine Frau im Krankenhaus zwischen Leben und Tod schwebte?«
Ich nehme mir eine Bedenkzeit. »Ja, das könnten Anhaltspunkte sein. Anzeichen von Meinungsverschiedenheiten in einem Familienbetrieb. Überlegungen, ob man einen Abenteuertrip machen sollte oder nicht. Anzeichen von Pflichtbewusstsein eines Direktors bezüglich der Betriebsfeier seiner Mitarbeiter. Aber Anhaltspunkte für einen Mord? Das ist nicht eindeutig, Gunnhildur.«
»Na gut«, sagt sie abweisend und zieht ihre Hand weg. »Dann will ich nichts mit dir zu tun haben. Dann kannst du verschwinden.«
Es ist nicht zu übersehen, dass sie sich wieder aufregen wird. »Warum hast du mich angerufen?«, frage ich ruhig. »Ich bin ganz neu hier in Akureyri und gewöhne mich gerade erst ein. Du kennst mich überhaupt nicht.«
»Nein, ich kenne dich nicht. Ich hab nur deine Meldung über Dísabjörk in der Zeitung gelesen. Und deinen Artikel über die Leute, deren Hund weggelaufen ist. Deshalb hab ich dich angerufen.«
Gunnhildur Bjargmundsdóttir fängt an zu weinen. »Jetzt wird mir auch klar, dass das sinnlos war. Verschwinde, Junge. Lass eine alte Frau in Ruhe trauern.«
Vom Abend des Karfreitags ist zu berichten, dass Jóa bei Heiða zum Essen eingeladen war und Snælda und ich ein Bad nahmen. Getrennt.
Dann schauten wir uns gemeinsam einen brutalen amerikanischen Film über den Leidensweg Christi an.
Während ich mich in der Nacht hin und her wälzte und Alpträume hatte – ich wurde von Morse und Taggart gejagt, weil ich eine halbe Flasche Jim Beam gestohlen hatte –, fand man auf dem Schrotthaufen von Akureyri eine Leiche.
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9
Samstag
W as hatte der Pastor bei der Messe im Radio noch mal gesagt? »Wenn wir Jünger Christi werden wollen, müssen wir sein Kreuz tragen und ihm tagtäglich folgen. Das Leidenskreuz ist Teil des täglichen Lebens aller Christen. Die Geschehnisse der Karwoche helfen uns, das Leid in unserem eigenen Leben besser zu verstehen …«
Auf der Straße nach Krossanes gibt es keine Anhaltspunkte für das Leiden Christi, obwohl sich die Schrottberge Akureyris aus purem Zufall oder sogenannter Ironie des Schicksals ausgerechnet am Kreuzkap befinden: Krossanes. Jóa und ich sind am Karsamstag gegen Mittag unterwegs zur Alteisenannahme der Müllentsorgung Eyjafjord. Versehentlich fahre ich erst hinunter zum Hafen in Óseyri, entdecke dann aber das Gelände oberhalb der Fabrik.
Die Schrotthügel sind mit Lattenzäunen abgeschirmt; in der Mitte befindet sich ein breites Tor mit einem Weg, der durch die Hügel führt. Das Tor ist offen, und rechts und links vom Weg stehen uniformierte Polizisten Wache. Vor dem Zaun parken fünf oder sechs Autos. Neben einem der Autos entdecke ich den Nachrichtenredakteur vom Rundfunk mit einem kleinen Aufnahme- und Sendegerät, das aussieht wie ein Flachmann. Ein anderes Auto trägt das Logo des
Morgenboten
.
Hinter dem Zaun befinden sich eine hellblaue Hütte, jede Menge riesige Container und ein Lkw mit der Aufschrift: »Eisen- und Metallschrott ist unsere Sache.« Außerdem stehen dort ein unmarkiertes Fahrzeug und zwei Polizeiwagen, die jedoch nicht die Aufschrift tragen: »Leichen und Verstümmelungen sind unsere Sache«. Hinter den Fahrzeugen türmen sich Berge von Autoreifen, Kartons, ausgemusterten Kühlschränken, Tiefkühltruhen und anderen Geräten sowie allerlei Plunder. In der Ferne erkenne ich undeutlich einen riesigen Berg Schrottautos.
Jóa und ich steigen aus. Durch das Tor knipst sie die Polizisten und die mit Schutzanzügen bekleideten Techniker jenseits des gelben Absperrbandes, das quer über die Einfahrt gespannt ist. Alle sind sehr beschäftigt; die meisten inspizieren einen halbverbrannten Stapel Autoreifen. Dunkelgrauer Rauch steigt in der sonnigen Windstille senkrecht zum Himmel auf.
Ich folge Jóa zum Tor. Dort stehen vier Kollegen mit Kameras, Mikrofonen und Aufnahmegeräten beisammen.
»Was ist los?«, frage ich und mische mich unter die
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