Todeshaus am Deich
könnte noch ein Interesse daran gehabt
haben?«
»Niemand«, antwortete Schwester Regina bestimmt. Nach
einer ganzen Weile fügt sie leiser hinzu: »Herr Brodersen kann den frei
gewordenen Platz jetzt wieder neu besetzen. Und das gilt auch für Frau
Beckerling.«
Sie schluchzte leise.
»Moment«, gab Christoph zurück. »Wer spricht denn
davon? Im Augenblick wissen wir nur, dass die alte Dame nicht in ihrem Zimmer
ist. Bei Ihnen klingt das aber, als würden Sie auch bei Frau Beckerling mit dem
Schlimmsten rechnen.«
Regina hatte einen tränenverschleierten Blick, als
Christoph sie ansah. »So meine ich das nicht. Es ist doch nur, weil Trudchen
Beckerling unbedingt zur Blutwäsche muss.«
Dann erklärte sie sich überraschend bereit, die
formelle Vermisstenanzeige zu erstatten.
Als sie gegangen war, rief Christoph die Husumer
Nachrichten an.
»Wir freuen uns natürlich über die gute Zusammenarbeit
mit der Husumer Polizei«, unkte der Lokalredakteur. »Aber wenn ihr bei uns
jetzt täglich eine Suchanzeige aufgebt, firmieren wir bald als Anzeigenblatt
der örtlichen Kripo.«
Christoph nahm diese nicht ernst gemeinte Frotzelei
kommentarlos hin. Er schätzte die gute Zusammenarbeit mit der regionalen
Presse.
Anschließend nahm er Kontakt zu Sven Kayssen im
Landeskriminalamt auf und bat den Pressesprecher, die Vermisstenanzeige an die
Rundfunksender weiterzuleiten, die in Schleswig-Holstein ausgestrahlt werden.
Über diesen Weg war sichergestellt, dass die Personensuchmeldung im Anschluss
an die Verkehrsnachrichten gesendet würde.
Mommsen sah auf die Uhr.
»Schon halb drei, und Wilderich ist immer noch nicht
zurück. Wenn du einverstanden bist, dann hole ich ihn zu Hause ab, und wir
klappern einmal die Häuser in der Rieke Reech und an der Finkhauschaussee in
der Nähe des Altersheimes ab und fragen, ob jemand Trude Beckerling gesehen
hat.«
Christoph nickte nur.
*
Christoph saß an seinem Schreibtisch und genoss einen
Moment die Ruhe. Von der Straße drangen die Geräusche nur gedämpft durch das
Fenster. Mommsens gleichförmiges Bearbeiten der Computertastatur fehlte ebenso
wie Große Jägers leises Fluchen. Irgendetwas gab es immer, was den
Oberkommissar zu Unmutsäußerungen veranlasste. Sei es, dass er das Feuerzeug
auf seinem ungeordneten Schreibtisch nicht sofort fand, der Kaffeebecher leer
war oder er sich überraschend für seine Kollegen daran erinnerte, dass die
Resultate seiner Lieblingsvereine nicht seinem Wunsch entsprachen.
Ein Lächeln huschte über Christophs Antlitz, als er
daran dachte. Dann konzentrierte er sich wieder auf die handschriftlichen
Notizen vor seinen Augen. Manchmal hat die Polizei Glück, überlegte er. Gerade
bei Tötungsdelikten sind die Täter häufig im Umfeld des Opfers zu finden. Und
wenn es gelingt, das Motiv für die Tat zu ergründen, kann man das Verbrechen
sehr häufig aufklären. Deshalb erstreckt sich die Ermittlungsarbeit stets auf
zwei parallele Fragen: Wer und warum? Schwierig wird es, wenn die Verbindung
zwischen Täter und Opfer nicht erkennbar ist. In diesen Fällen gab es
verschiedene Unwägbarkeiten. Auch die Kriminaltechnik hatte die Frage, ob Paul
Schüttemann ermordet wurde oder ob nicht doch ein Unfall vorlag, nicht
eindeutig klären können. Aber was hatte der Eindruck in der Schale des
Apfelstückes zu bedeuten, den die Wissenschaftler in Kiel erkannt hatten? Wenn
es die Stelle im Obstteil war, an der ein möglicher Täter das Stück in den
Rachen des Opfers gepresst hatte, dann war es eindeutig Mord. Aber aus welchem
Grund? Der alte Mann war nicht vermögend gewesen, und sein Tod brachte
niemandem einen Vorteil. Und dass Brodersen seine betagten und
pflegebedürftigen Bewohner umbrachte, schien im Moment ein sehr abwegiger
Gedanke.
In der letzten Zeit hatten Mordfälle die
Öffentlichkeit bewegt, in denen kranke und leidende Menschen aus Mitleid
getötet worden waren. Das Pflegepersonal glaubte, dem siechenden Patienten mit
der Erlösung von seinen Leiden einen letzten Dienst zu erweisen. Auch eine
solche Möglichkeit musste in Betracht gezogen werden. Und Regina schien
diejenige unter den Betreuerinnen zu sein, der das Schicksal der Anvertrauten
besonders naheging. War es eventuell doch kein Zufall, dass ausgerechnet sie
die Reste des nicht gegessenen Apfels entsorgt hatte?
Und weshalb war Frau Beckerling verschwunden? Nach
allem, was sie bisher in Erfahrung bringen konnten, war die alte Dame nicht in
der Lage, das Heim allein zu verlassen.
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