Todeshaus am Deich
Und keiner wollte sie beim Fortgehen
gesehen oder ihr gar geholfen haben.
Christoph war immer noch mit diesen Gedanken
beschäftigt und hatte versucht, die Zusammenhänge zwischen den beiden Fällen
und den involvierten Personen in einer Skizze grafisch aufzubereiten, als Große
Jäger und Mommsen zurückkehrten.
»Nichts«, fasste der Oberkommissar das Ergebnis ihrer
Bemühungen zusammen. »Wer zum fraglichen Zeitpunkt im Hause war, hat entweder
nicht auf die Straße gesehen oder die Frau nicht bemerkt. Wir wissen damit zwar
immer noch nicht, ob sie sich zu Fuß entfernt hat, aber es ist auch nicht
ausgeschlossen, dass sie jemand mit einem Auto von der Residenz fortgebracht
hat.«
Große Jäger beugte sich über Christophs Zeichnung.
»Hast du Erkenntnisse gewinnen können?«
»Leider nicht.«
»Es wäre zu schön gewesen, wenn du herausgefunden
hättest, wer Frau Beckerling bei der Flucht behilflich war.«
»Und wenn es keine Flucht war, sondern die Frau gegen
ihren Willen fortgebracht wurde?«
»Also doch Entführung?«
»Vielleicht eine sanfte Entführung. Wenn es
jemand war, dem sie vertraut hat, dann ist sie ihm ohne Argwohn gefolgt.«
»Quatsch«, tat Große Jäger Christophs Gedanken ab.
»Wer sollte eine kranke Oma entführen? Für einen orientalischen Harem ist sie
nicht mehr reizvoll genug. Und als Tauschobjekt gegen Lösegeld auch kein
ideales Faustpfand.«
Christoph erläuterte seine Vermutung, dass sich
vielleicht jemand als Engel der alten Leute betätigt hatte und glaubte, sie von
ihrem Leiden erlösen zu müssen. »Schließlich wissen wir, dass Frau Beckerling
ebenso krank war wie der alte Schüttemann.«
»Blödsinn«, widersprach Große Jäger. »So etwas taucht
nur als Titelstory in den Revolverblättern auf. Du glaubst doch nicht im Ernst,
dass sich eine solche Geschichte hier bei uns in Husum zutragen könnte?«
Große Jäger formte Daumen und Zeigefinger zu einem
runden Kreis. Das Zeichen konnte beim Austausch unter Autofahrern zu
Missverständnissen führen. Hier bedeutete es einfach: okay. »Immerhin hast du
alle Mordfälle geklärt, seit du hier bist«, lobte der Oberkommissar.
Christoph winkte ab.
»Wir – mein lieber Wilderich. Es war immer
hervorragende Teamarbeit.«
Nur wer Große Jäger gut genug kannte, konnte merken,
dass er sich über dieses Lob freute.
»Wir haben als weitere Spur noch die Nichte, die sich
sporadisch von Tante Trude aushalten ließ. Ich denke, ich werde der Dame noch
einen Besuch abstatten, bevor ich Feierabend mache«, sagte Große Jäger.
»Vielleicht ist sie jetzt zu Hause.« Dann stutzte er. Der kurzen Pause folgte
ein »O Scheiße«.
»Was ist denn nun los?«, ließ sich Mommsen aus dem
Hintergrund vernehmen.
Große Jäger machte auf seinem Schreibtischstuhl ein
Hohlkreuz und versuchte, mit seiner Hand in die enge Hose der Jeans zu
gelangen.
»Ich habe doch glatt vergessen, eine zu rauchen«,
stöhnte er.
VIER
»… dichter Verkehr
herrscht am Bordesholmer Dreieck Fahrtrichtung Süden. Und noch einmal die A7.
Zwischen Schuby und Tarp befindet sich eine ungesicherte Unfallstelle. Das
waren die Verkehrsnachrichten. Es folgt noch eine Suchmeldung. Vermisst wird
Trude Beckerling. Die siebenundsiebzigjährige Frau ist weißhaarig und einen
Meter einundsechzig groß. Sie war im Raum Husum unterwegs und ist gehbehindert.
Bekleidet ist sie mit einer grauen Strickjacke. Frau Beckerling bedarf dringend
ärztlicher Hilfe. Wer die Frau sieht, melde sich bitte bei der Polizei Husum
oder jeder anderen Polizeidienststelle. Es ist sechs Minuten nach sieben.
Weiter geht es mit Christian Schröder und ›Guten Morgen, Schleswig-Holstein‹.«
Christoph schaltete
das Radio aus. Die Suchmeldung nach Frau Beckerling war über den Äther
gegangen. Doch er versprach sich nicht viel davon.
Auf Zehenspitzen
ging er die knarrende Holztreppe hinab, um seine Zeitung aus dem Briefkasten zu
holen. Doch seine Vermieterin musste hinter der Tür gelauert haben.
»Guten Morgen, Herr
Johannes. Haben Sie das eben gehört? Da wird eine ältere Dame gesucht.
Schrecklich so was, nicht? Haben Sie das auch gehört?«
»Nein, davon habe
ich nichts mitbekommen«, log Christoph, klemmte sich die Zeitung unter den Arm
und bemühte sich, schnell wieder in seine Wohnung zu kommen.
»Was heutzutage
nicht alles passiert«, hörte er hinter seinem Rücken. »Aber wie gut, dass es
die Polizei gibt. Hoffentlich finden die die Frau. Nein, so was.« Mit
Erleichterung hörte er, wie die
Weitere Kostenlose Bücher