Todeshaus am Deich
war nicht das Schlimmste, denn dann war man gewiss, dass einen
nicht überraschend der Tod holte, der nachts umging und ein langes Leben
abschloss. So kehrte mit Ankes und dem Erscheinen ihrer Kolleginnen das Leben
zurück und verhieß einen weiteren Tag Erdendasein.
Die Schwester hatte
gut die Hälfte ihres Programms absolviert, als sie Bruno Steinträgers Zimmer
erreichte. Sie sparte sich das Klopfen und schloss gleich mit dem
Generalschlüssel auf. Der alte Herr mit seiner fortgeschrittenen
Alzheimererkrankung reagierte schon lange nicht mehr auf Zeichen an der Tür.
Es roch säuerlich im
Raum. Doch das war nicht das Einzige, was Anke stutzen ließ. Mit einem Blick
nahm Anke den Zustand des Patienten wahr. Steinträger lag auf dem Rücken, die
Augen waren geschlossen, der Mund wie bei einem Fisch auf dem Trockenen
gespitzt. Ein leichter Schweißfilm zog sich über das fahle Gesicht. Vorsichtig
tupfte Anke mit der Fingerspitze auf die Wange. Die Haut war klebrig. Dann maß
sie den Puls und wusste, dass es einen weiteren Todesfall in der
Seniorenresidenz gegeben hatte. Ohne dem Urteil des Arztes vorgreifen zu
wollen, war sie sich sicher, dass Bruno Steinträger an einer Unterzuckerung
gestorben war. Sie warf noch einen Blick über die Schulter auf den Tropf, der
mit der Vene des alten Mannes verbunden war. Dann eilte sie ins
Schwesternzimmer, um Dr. Michalke zu verständigen – und die Polizei.
*
Weiß war die alles beherrschende Farbe. Tapete und
Bettwäsche waren ebenso weiß wie das Gesicht des Toten. Die anderen Anwesenden
im Raum hatten sich angepasst.
Während Schwester Anke noch eine vornehme Blässe
zeigte, wirkte das Antlitz des Heimleiters wie gekalkt. Brodersens Teint
unterschied sich in nichts von dem Bruno Steinträgers. Frau Dr. Michalke trug
einen ernsten Gesichtsausdruck zur Schau, und Christoph, könnte er sich im
Spiegel sehen, sah auch nicht glücklich aus. Ihn hatte ein tiefes Winterbleich
befallen.
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der Mann an
Unterzuckerung gestorben. Möglicherweise hat er zu viel Insulin erhalten.« Mit
diesen Worten brach die Ärztin die Stille.
»Wann ist ihm das Insulin verabreicht worden?«, fragte
Christoph.
»Schwer zu sagen. Je nach Konstitution des Patienten
tritt der Tod nach einem halben bis einem Tag ein.« Sie klopfte gegen den
Tropf. »Vielleicht ist es auch hierüber zugeführt worden.«
»Das kann nicht sein«, protestierte Brodersen mit
schwacher Stimme. Er hatte nicht mehr die Kampfeslust, mit der er ihnen allen
bei den vorhergehenden Todesfällen entgegengetreten war. »Zufällig kann das
Insulin dort nicht hingeraten sein. Das hieße dann …« Er brach ab, als er sich
bewusst wurde, welchen Verdacht er soeben ausgesprochen hatte.
»Sie haben recht«, mischte sich Große Jäger ein. »Das
würde bedeuten, dass er da«, der Oberkommissar zeigte auf den Toten, »ermordet
wurde.«
Brodersen ließ sich auf einen der simplen Holzstühle
fallen. Alle erschraken, als das Sitzmöbel rückwärts über den Boden scharrte.
»Wer hat das Insulin gespritzt?«, fragte Christoph.
Schwester Anke sah auf einen schuppenartigen
Klappdeckel und blätterte zwei Seiten um.
»Regina hat gestern Nachmittag die Injektion
verabreicht.« Sie tippte mit dem Finger auf das Dokument. »Hier ist die
korrekte Menge eingetragen worden. Ich nehme an, dass die Spritze wie immer von
Dagmar vorbereitet wurde.«
Christoph sah sich im Raum um. Auf den ersten Blick
war nichts Außergewöhnliches zu erkennen.
»Haben Sie noch etwas?«, wandte er sich an die Ärztin.
Die schüttelte den Kopf. »Ich werde ›unklare
Todesursache‹ ankreuzen«, stellte sie fest und warf Brodersen einen Blick zu.
Doch der Protest des Heimleiters blieb aus.
»Gut, dann bitte ich alle, den Raum zu verlassen. Wir
werden die Spurensicherung kommen lassen. Das Zimmer darf nicht mehr betreten
werden. Das gilt auch für das Schwesternzimmer«, sagte Christoph.
»Aber! Wir müssen doch arbeiten«, warf Brodersen ein.
»Da müssen Sie sich vorübergehend etwas anderes
einfallen lassen. Wir werden einen Beamten am Eingang postieren. Niemand
verlässt oder betritt das Gebäude, bevor wir es freigegeben haben. Sie«,
Christoph sah den Heimleiter an, »werden mir umgehend eine Liste mit allen
anwesenden Personen fertigen. Und mit denen, die seit gestern Abend im Hause
waren.«
»Da wäre noch etwas«, warf Schwester Anke schüchtern
ein und berichtete von der Aushilfskraft, die sie vorhin schlafend im
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